Samstag, 30. November 2013

„La Folia - Eine Melodie erobert die Musik“


Kennt ihr das auch: Man hat eine Melodie im Kopf, hat aber keine Ahnung, woher diese Melodie stammt!?

Das ist ein altbekanntes Phänomen und kann einen an den Rand der Verzweiflung bringen, nicht wahr?!

Das Rätsel um zumindest eine solche Melodie soll heute endgültig geklärt werden. Es wird ein Melodie-Schema vorgestellt, welches sich durch viele hundert Jahre geschlichen, in allen Epochen der Musikgeschichte Bestand gefunden und nichts an seiner Frische verloren hat. Seit seiner Erfindung erfreute es sich stets größter Beliebtheit, mit der die Musikgeschichte im Sturm erobert wurde. Somit wird heute ein weiter Brückenschlag getan, der einen Horizont erschließt, bei dem sich wieder mal Renaissance und Gegenwart über Jahrhunderte hinweg die Hände reichen!


In diesem Artikel möchte ich ein melodisch-harmonisches Satzmodell präsentieren, welchesLa Folia“ heißt und im Barock seine Blüte hatte. Dieses Wort kann man mit „übermütiger Ausgelassenheit“ oder auch „Tollheit“ übersetzen. Klingt eigenartig, nicht wahr? Grund genug, dass ich heute eine kleine Spurensuche betreibe, die uns durch die Musikgeschichte führen wird und wir erstaunt sein werden, was für große Namen uns dabei wieder begegnen. Was für ein Glück, dass wir vor diesen großen Namen mittlerweile keine Angst mehr haben, sondern sie uns längst als alte Freunde erscheinen, die gute Musik mit sich bringen!

Wir beginnen zunächst in der tiefsten Renaissance und befinden uns im Spanien sowie Italien des 16. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit entstanden Musikstücke, die bereits die Charakteristika des späteren „Folia“-Typs aufwiesen. Ein Komponist, der diesen Typus entschieden mitgeprägt hatte, war der Spanier Diego Ortiz (1510-1570), der an einem Hofe zu Neapel angestellt war. Und wenn man seine frühe Form der „Folia“ hört, so können sich einige bereits denken, welche Spannweite diese Melodie in der Musikgeschichte entfalten wird:




Dieses Musikstück kommt noch nicht bekannt vor?! Nun, dann schnell weiter …

Der große Durchbruch dieses Harmoniemodells kam erst im Barock, wo es durch den großen französischen Hofkomponisten Jean-Baptiste Lully (1632-1687) erstmals alle charakteristischen Merkmale der uns heute bekannten „Folia“ aufwies. Die unsterbliche Harmoniefolge, die von tiefem Moll-Grundton in Dur aufsteigt und dann wieder zu Moll hinabsinkt, berührt uns heute wohl noch genauso wie das höfische Leben damals:




Ein feudales Meisterwerk, nicht wahr?

Hier ist vielleicht eine kleine Anekdote angebracht: Lully steht in vielen Büchern als jener Komponist, der den unnötigsten aller Tode erleiden musste. Er war am Hofe vom „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. in Frankreich angestellt und wollte zu Ehren der Genesung des Königs nach einer gelungenen Operation ein Konzert veranstalten, bei dem er selbst dirigieren und den Takt schlagen sollte. Dummerweise schlug er sich dabei während seiner emotionalen Orchesterleitung mit dem Dirigentenstab auf den Fuß. Es entstand eine offene Wunde, die sich entzündete. Wenige Tage später starb Lully an Wundbrand. Shit happens ...

Wie auch immer, unter Lully begann die wahre Erfolgsgeschichte der „Folia“. Sie verbreitete sich über ganz Europa und alle großen Komponisten liebten dieses Satzmodell und jeder wollte ihm ein Werk widmen oder Variationen darüber schreiben.

Ganz gleich, ob es ein Antonio Vivaldi (1678-1741) in Venedig war:




Oder ein Georg Friedrich Händel (1685-1759) in London:




Oder ein Johann Sebastian Bach (1685-1750) in Leibzig:




Eingeweihte wissen, dass Vivaldi, Händel und Bach keine kleinen Meister des Barocks waren und so trugen diese dazu bei, dass die Popularität der „Folia“ keine Grenzen kannte. Dieses Satzmodell avancierte sogar zu einem der beliebtesten Tanzsätze des Barocks. Langsam gespielt würde es sich um eine Sarabande handeln. Hätte es damals Charts gegeben, wäre die „Folia“ jahrelang auf Platz eins der Barock-Hitliste gewesen.

Doch auch nach dem Barock, in der Klassik, griffen viele Komponisten auf die „Folia“ zurück.

Beispielsweise der wunderbare italienische Komponist und Gitarrenvirtuosen Mauro Giuliani (1781-1829):




Auch in der Wiener Klassik hielt die „Folia“ Einzug. Ein Komponist, der sich besonders um dieses Harmonieschema verdient gemacht hat, war Antonio Salieri (1750-1825). Kinofreunde, die den großartigen Film „Amadeus“ von Miloš Forman (*1932) gesehen haben, wissen, dass Salieri der Mörder von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) war. Kenner, die sich darüber hinaus auch ein wenig mit Musik beschäftigt haben, wissen, dass das nicht stimmt und dass Salieri in erster Linie als hervorragender Lehrer von Beethoven, Hummel, Liszt und Schubert Anerkennung verdient. Man könnte fast sagen, dass hier die Theater- und Filmindustrien im Falle Salieris einen ganz gemeinen Rufmord zu Gunsten des Spannungsbogens betrieben haben …

Wie auch immer, Salieri schrieb ein großes Variationswerk über das „Folia“-Thema, das zu seinen bedeutendsten Werken zählt:




Ludwig van Beethoven (1770-1827), Salieris Schüler und ein eitler Gockel, mochte diese Melodie auch sehr gerne. Er wollte sie jedoch eher etwas versteckt in sein Werk einfließen lassen, weil er der Ansicht war, dass auf dieses Thema (möglicher Weise auch schon im Rahmen dieses Artikels) zu oft direkt Bezug genommen wurde. Somit entschied er, das Thema manchmal nur anzudeuten, um nicht ins Vorwasser geistigen Eigentums eines anderen Komponistens zu geraten:




Wurde die „Folia“ erkannt? Ein raffinierter Kerl dieser Beethoven, nicht war?

Weltbekannt wurde Beethovens „Folia“-Verarbeitung im zweiten Satz von dessen 5. Symphonie. Es gibt eine kleine, ganz kurze Episode, wo er das Thema zitiert. Ich bin gespannt, wer diese erkennt:




Wer auf Minute 6:06-6:27 getippt hat, hat Recht. Erstaunlich, nicht wahr? Noch erstaunlicher ist, dass dieser Zusammenhang von Musikwissenschaftlern erst 1994 publiziert wurde. Wir sind also mit diesem Artikel fast an vorderster Forschungsfront!

Da wir im Rahmen dieses Artikels bereits sehr viel Musik hören mussten, möchte ich langsam schließen. Ich hoffe, dieser Artikel konnte zeigen, wie sich die „Folia“ die Musik erobert hat. Und da Musik für viele das Paradies bedeutet, hat die „Folia“ das Paradies von der Renaissance ausgehend erobert. Und da in vielen Lehrbüchern der Beginn der Renaissance mit 1492, der Entdeckung Amerikas, gleichgesetzt wird, könnte jemand, der des Englischen mächtig ist, pointiert sagen: „Folia – 1492 - Conquest of Paradise“!

Klingelt es? Nein? Dann hört mal auf die Melodie des folgenden weltbekannten Werks eines griechischen Komponistens namens Vangelis (*1943), der besonders durch seine Filmmusik Bekanntheit erlangt hat:




Somit ist die „Folia“ nach einem langen Weg von tiefer Vergangenheit aus schließlich in unserer Gegenwart angekommen. Eine Melodie, die bereits damals begeisterte, wurde uns auch heute zu Teil! Ein Handschlag zwischen Renaissance und dem Jetzt ist gelungen!

Das ist die Kraft und die Beständigkeit der Musik, die uns doch so sehr bereichert … da sie jeder Zeit enthoben ist!

(Ich widme diesen Artikel meinen beiden Freunden Ronald Sladky und Barry Lyndon!)

Donnerstag, 28. November 2013

„Glenn Gould – Ein Pianist gegen den Rest der Welt“


Im Rahmen unserer bisherigen Beschäftigung mit der klassischen Musik haben wir uns stets mit Epochen, Komponisten oder Gattungen auseinandergesetzt. Das macht die Welt der Klassik zwar schon sehr bunt, dennoch haben wir einen Punkt bis jetzt vollkommen ausgeklammert, der diese Musik um die Tiefe einer weiteren Dimension bereichert: die Interpretation.

Nun stellt sich die Frage: Wer braucht schon verschiedene Interpretationen, wenn ein Werk bereits einmal gut eingespielt wurde?

Die Antwort ist relativ einfach: Keiner, doch die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden und so erhöht man die Freiheitsgrade! Und das soll mit diesem Beitrag gezeigt werden!

Aufgrund des Alters der meisten Komponisten sind heute selten mustergültige Studioeinspielungen von ihnen persönlich vorhanden, wie es bei heutigen Musikbands stets der Fall ist. Jedes klassische Werk wird jährlich von vielen verschiedenen Orchestern, Dirigenten und Virtuosen aufgeführt, deren Interpretationen sich oft grundlegend unterscheiden. In diesem Artikel möchte ich mich mit einem skurilen Meisterinterpreten am Klavier beschäftigen, dessen technisches Vermögen unbestritten ist, der sich jedoch durch unorthodoxe Zugänge hinsichtlich Interpretation oft Feinde gemacht hat, ja teilweise sogar abgelehnt und ausgelacht wurde. Dieser Pianist ist ein Paradebeispiel, wie man durch unkonventionelle Herangehensweise ganz neue Facetten einer Komposition entdecken kann. Und manchmal tun diese der Komposition gut!

Die Rede ist von dem kanadischen Meisterpianisten Glenn Gould (1932-1982), der für seine Akribie und seinen Perfektionismus bekannt ist und in den letzten 15 Jahren seines Lebens Konzertauftritte ablehnte, um sich im Tonstudio ganz der Suche nach dem perfekten Klang zu widmen.


Zum Vergleich mit anderen Interpretationen werden vier Werke aus drei Epochen herangezogen: Barock, Wiener Klassik (gleich 2 mal) und Romantik.


a) Barock

Der Barock gilt als Goulds Meisterdisziplin. Seine Errungenschaften auf dem Gebiet der Interpretation von Bachs Werk gelten als unumstritten und als Referenzaufnahmen, die ewige Gültigkeit besitzen. Das gelang Gould nicht nur, weil er technisch die Kontrapunkte und Polyphonie perfekt spielen konnte, sondern auch, da er dieser vergeistigten Musik mit Leidenschaft und tiefem Empfinden begegnete und ihr so Leben einhauchte; sie zur unmittelbaren Erfahrung machte. Die Intensität seines Spieles weicht von üblichen Interpretationen anderer Pianisten stark ab und versucht, zu tiefgreifenderen Welten vorzustoßen.

(Als kleine Anekdote sei dazugesagt, dass Gould selbst von seiner Interpretation derart überzeugt und berührt war, dass er während des Spiels oft wie in Trance mitsummte, was auch auf den Studioaufnahmen zu hören ist, aber kein ernsthafter Kritikpunkt sein darf!)

Als Vergleichsbeispiel wähle ich die einleitende „Aria“ der Goldbergvariationen, BWV 988 von Johann Sebastian Bach (1685-1750), welche Gould wenige Monate vor seinem Tod ein letztes Mal einspielte und die interpretatorisch bis heute als unerreicht gelten. Der Name dieser Variationen leitet sich angeblich von einem Cembalisten eines russischen Gesandten am Dresdener Hof ab, der Bach gebeten haben soll, einen Variationszyklus zu schreiben, den er seinem Herren vorspielen kann, da dieser unter Schlafproblemen leide. Ob diese Anekdote stimmt, weiß ich nicht. Auf keinen Fall darf daraus abgeleitet werden, dass diese Musik narkotisch auf ihre Zuhörer wirke!!!

Als Vergleichsinterpretation wähle ich jene des großen Pianisten Wilhelm Kempff (1895-1991), dem ebenfalls eine sehr umjubelte Einspielung der Goldbergvariationen gelungen ist:




Liebreizend, nicht wahr?

Und nun Goulds Interpretation des gleichen Stückes. Es entscheide jeder selbst, welche einem näher geht:




b) Wiener Klassik I

Um es gleich zu sagen: Das Verhältnis zwischen Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Glenn Gould war nicht das beste. Gould war Mozarts Weise zu komponieren suspekt, zu sehr war ihm Bachs Werk nahe. Und auch, wenn Mozart in seinem Spätwerk Elemente von Bach aufgriff (wir erinnern uns an einen früheren Artikel), so schürte dies noch viel mehr Goulds Aversion und verleitete ihn zu dem Satz, Mozart sei eher zu spät gestorben als zu früh.

Jetzt werden viele zu Recht den Kopf vor so pietätlosen Äußerungen schütteln und doch keimte (wenn schon keine Liebe) eine Hassliebe zwischen beiden. Gould spielte nämlich sämtliche Klaviersonaten von Mozart ein und interpretierte sie auf eine Weise, die (gelinde gesagt) auf Unverständnis in der Öffentlichkeit stieß. Gould spiele Mozart gegen den Strich, war eine häufige Kritik. Doch Gould fühlte sich missverstanden, da er sich als den einzigen Interpreten sah, der Mozarts Intension gerecht wurde.

Hier taten sich Klüfte, verhärtete Fronten sowohl bei den Musikkritikern als auch beim Publikum auf! Es schien fast so als könnte man entweder nur auf Mozarts oder auf Goulds Seite sein. Und offen gesagt, diese Fronten existieren noch heute: Viele lehnen Goulds Mozart-Experimente strikt ab und bleiben lieber bei den etablierten Interpretationen. Diese Haltung ist durchaus verständlich, dennoch sollte dieser interessante Vergleich nicht gescheut werden.

Ich wähle hierfür die Interpretation des ersten Satzes aus Mozarts Klaviersonate in a-Moll, KV 310. Es ist eine der wenigen Klaviersonaten, die Mozart in Moll geschrieben hat, und gehört zu seinen dunkelsten Werken. Er komponierte sie im Laufe einer Parisreise 1778, nachdem er vom Tode seiner Mutter erfahren hatte.

Die bekannteste und als Referenzaufnahme geltende Einspielung dieser Sonate gelang dem wunderbaren Dinu Lipatti (1917-1950):




Die Interpretation von Glenn Gould wirkt nach den sehr würdigen Klängen von Lipatti anfangs fast wie eine Parodie auf das Werk. Gould nimmt Mozarts Tempo- und Dynamikangaben nicht sonderlich ernst und kümmert sich auch um keine Wiederholungen, die Mozart vorgeschrieben hat. "Er stellt die Melodien (und zwar nicht nur die Vordergründigen) in den Vordergrund und verwandelt Tempo und Rhythmik von spröden Vorgaben zu emotionalen Variablen." (Roman Stift) Hierbei gelingt ein dynamischer Fluss, der nicht nur überzeugen kann, sondern durch seine Exaltiertheit (man könnte fast Besessenheit sagen) Mozarts Musik in ganz neue Sphären rückt:
 



Wurde ein Unterschied erkannt? Auf welcher Seite der verhärteten Fronten steht ihr?


c) Wiener Klassik II

Goulds Verhältnis zu Ludwig van Beethoven (1770-1827) war mit Sicherheit ebenfalls gespannt, dennoch sind ihm hier Einspielungen gelungen, die ähnlich originell waren wie jene von Mozarts Werken, doch (meiner Meinung nach) weniger anfechtbar.

Als Beispiel, das Gould als Interpretationsgenie in Sachen Beethoven entpuppt, wähle ich die Sammlung von Bagatellen, op.126. Es handelt sich hierbei um Beethovens letztes Klavierwerk, das er vereinsamt und stocktaub komponiert hat. Doch jeder der nun denkt, ein Komponist sei aufgrund seiner Taubheit gehandikapt, der irrt zumindest im Falle Beethovens. Auf Beethovens Werk hat sich dessen verlorenes Gehör in keinster Weise negativ ausgewirkt. Seine Musik ist höchstens etwas entrückter, extravaganter und jenseitiger geworden. Aber nur Narren führen das als Kritik an!

Vergleichen möchte ich die vierte Bagatelle in h-Moll aus dieser Sammlung. Es handelt sich um ein sehr mächtiges, finsteres Stück, das fast martialisch anmutet und Beethoven von der Seite zeigt, die viele so lieben.

Zunächst sei eine sehr gekonnt-virtuose Interpretation von Alfred Brendel (*1931) vorgestellt:




Man vergleiche diese Version nun mit Gould, der sich vom Tempo her etwas zurücknimmt und mehr Wert auf Akzentuierung setzt. Dies führt dazu, dass manche Passagen wie in Minute 0:22 oder 1:10, die bei Brendel einfach so vorbeihuschen, bei Gould fast etwas zu swingen beginnen. Ich weiß nicht, ob das im Sinne Beethovens ist, aber ich liebe es:
 



d) Romantik

Viele Freunde der Romantik müssen nun ganz stark und tapfer sein. Gould lehnte die großen Romantiker großteils strikt ab. Er leugnete Schumann und Liszt als Komponisten, kritisierte Schuberts Stil und gab an, Chopin nur in sehr schwachen Momenten zu spielen, denn seine Musik habe nichts Überzeugendes.

Glaubt mir, bei so mancher Kritik an den oben angeführten Komponisten blutet mein Herz am meisten, da ich hier oftmals ganz anderer Meinung als Gould bin!

Gould-Gegner und Romantik-Liebhaber brachten als Gegenkritik an, dass Gould diese strikte, rigorose Haltung und Abneigung gegenüber der Romantik nur deshalb hege, weil er selbst unfähig sei, sie zu spielen. Diese Kritik traf Gould schwer und er kündigte an, eine Sonate Chopins (op.58) einzuspielen, um diese Vorwürfen zu entkräften. Und das tat er auch! Aber er wäre nicht Glenn Gould, wenn er das nicht mit seiner ganz eigenen, unverwechselbare Weise getan hätte! Das Resultat war eine Interpretation, die sich durch übertriebenes „Staccato“, das aufgrund des Weglassen des Pedals am Klavier (kein Nachhall) entstand, auszeichnete. Dadurch wirkt das Werk wie ein romantisches Ungetüm im barocken Gewand, das von Gould zwar gebändigt und souverän gespielt wurde… DOCH WIE!!! Man fühlt sich mehr an Bach als an Chopin erinnert!

Verglichen wird der 4. Satz der Sonate. Hier eine fantastische, romantische Interpretation des furiosen Evgeny Kissin (*1971):




Schon eine wild romantische Nummer, nicht wahr?

Und hier das barock-romantische Ungetüm meisterhaft interpretiert von Gould:




Klingt fast wie ein anderes Werk, oder?


e) Epilog

Glenn Gould spaltet auch 30 Jahre nach seinem Tod die Gemüter genau wie zu seinen Lebenszeiten. Und ich bin mir sicher, nach lesen dieses Artikels werden zwei Parteien existieren: Jene, die begeistert diese unkonventionelle Art der Interpretation begrüßen, und jene, welche die Kompositionen von einem talentierten Egomanen missbraucht sehen, der sich inszenieren wollte.

Somit wird Gould entweder gefeiert oder verachtet, doch eines wird er nicht: als gleichgültig betrachtet. Denn zu berechtigt sind seine Interpretationsversuche, seine Annäherungen an die Kunst und zu sehr hat er die klassische Gemeinde damit bereichert und zu hitzigen Diskussionen beflügelt.

Und wenn Glenn Gould nach diesem Artikel ebenso geliebt wie abgelehnt wird, dann hat er sein Lebensziel auch posthum erreicht: die Provokation!




Dienstag, 26. November 2013

„Film und Klassik – Tango!!!“


Was wäre ein Film nur ohne Musik?! Wie notwendig ist doch die passende musikalische Begleitung, um der Spannung des Films ihren wahren Glanz zu verleihen. Was wären Liebesszenen ohne den schwebenden Klang der Streicher, was Kämpfe und Duelle ohne den martialischen Sound der Blechbläser, was wären Trauer und Melancholie ohne der sanften Melodie des Klaviers? Ja, Filmmusik ist notwendig und bereichernd, um Szenen zusätzliche Tiefe zu verleihen. Und manchmal, wenn diese Musik besonders gelungen und eingängig ist, erlangt diese über den Film hinaus Bekanntheit und wird ein Teil unserer Populärkultur:

Schließlich weiß heutzutage jedes Kind, wie es klingt, wenn sich ein weißer Hai nähert, wenn ein Archäologe mit Peitsche und Hut verlorene Schätze sucht, wenn ein britische Geheimagent Weltherrschaftspläne anderer vereitelt, wenn ein metrosexueller Pirat durch die Meere kreuzt oder wenn eine Frau unter der Dusche erstochen wird.

Diese Melodien sind sehr populär und leicht wiederzuerkennen, auch wenn die Filme selbst nicht gesehen wurden. Was aber wenige wissen, ist, dass sich ziemlich alle populären Filmthemen aus der Klassischen Musik ableiten lassen. Und genau davon soll die Rubrik "Film und Klassik" bei Sölkners Klassik-Kunde handeln!

Im heutigen Beitrag für diese Rubrik wird es lasziv, erotisch, exotisch, anrüchig und temperamentvoll!

Nein, es geht nicht Zwölftonmusik, wir widmen uns dem Tango!!!!



Es geht um den wohl berühmtesten Tango der Welt: „Por una cabeza“. Der südamerikanische Komponist und Sänger Carlos Gardel (1890-1935) komponierte ihn für den Film „Tango-Bar“. Darin geht es um einen spielsüchtigen Mann, der sein Hab und Gut bei einem Pferderennen verliert, da sein Pferd bei der Ziellinie um eine Kopflänge (span. „por una cabeza“) hinter dem Gewinner gelegen ist. In dem Tango vergleicht dieser besessene Mann seine krankhafte Spielsucht mit der sexuellen Anziehung einer Frau.

Die Musik tut das Ihre, diesen Drang, diese Leidenschaft auch uns direkt zu vermitteln:




Tragisches Detail am Rande: Der Sänger und Komponist Gardel verstarb gemeinsam mit dem Textdichter dieses Tangos etwa eine Woche vor der Uraufführung des Films bei einem Flugzeugunglück. Beide erlebten die Erfolgsgeschichte des Tangos nicht mehr, doch diese war immens! Er wurde derart populär, dass er in etlichen (und nicht den unbekanntesten) Filmen als Musik verwendet wurde: „Schindlers Liste“, „True Lies“, „Der Duft der Frauen“, „Titanic“, … (um nur einige zu nennen).

Doch jeder, der sich (wie ich) bei den leidenschaftlichen Klängen eine heißblütige, laszive, spanisch sprechende Frau vorstellt, der sei mit dieser Vorstellung glücklich und sollte hier zum Lesen aufhören. -

Der Ursprung der Melodie liegt ganz wo anders! Sie wurde von einem Mann komponiert, der zweifellos musikalisches Talent besaß, aber keineswegs als großer Tango-Komponist in die Musikgeschichte eingegangen ist. Es handelt sich um einen Mann, der wohl weniger spanisch sprach, sondern eher bevorzugte, mit derbem salzburgischen Dialekt zu fluchen. Es ist kein Geringerer als Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791).

Man höre sich einfach folgendes nettes (doch eher harmloses) Rondo für Violine und Orchester, KV373 an. (Ein kleiner Tipp: bei Minute 3:36 etwas genauer hinhören!)




Warum diese Melodie auf einmal in Mozarts Werk auftaucht, weiß keiner, und nach 12 Sekunden ist der ganze Spuk auch schon wieder vorbei. Dass dieses Stück vor Gardels Tango entstand, gilt in der modernen Musikwissenschaft als unumstritten. Dass Gardels Version aber Mozart in dieser Hinsicht an Popularität geschlagen hat, bedarf keiner Erklärung.

Ich bitte dennoch darum, mit dieser Information vorsichtig umzugehen, da vor allem die Südamerikaner den Tango als ihre eigene Errungenschaft sehen. Das mag bezüglich des Tanzens sicher auch stimmen, dennoch wissen wir jetzt, dass bei so mancher Tango-Melodie auch Mozart seine Finger im Spiel hatte.

Diese Wunderkinder können es einfach nicht lassen ...

Montag, 25. November 2013

„Ligeti – Moderne mit Vergangenheit“


Dieser Artikel handelt von einem ungarischen Komponisten unserer zeitgenössischen Musik: György Ligeti (1923-2006). Viele werden nun erschrecken und befürchten, dass klassische Musik unserer Gegenwart unhörbar sei. Aber bevor nun alle zu einem anderen Artikel über Meister entfernterer Epochen klicken, sei zur Beruhigung erwähnt, dass sich Ligetis Musik durch ihre innere Spannung, ihre mystische Harmonik und Polyphonie im Filmgenre etabliert hat und bereits Teil unseres passiven Bewusstseins geworden ist.

Also nur Mut, man könnte positiv überrascht werden!

Der Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ des Regie-Großmeisters Stanley Kubrick (1929-1999) hat Ligetis Musik im Jahre 1968 salonfähig und ungemein populär gemacht. Kubrick wollte in weiteren Meisterwerken wie „The Shining“ oder „Eyes wide shut“ auf diese Musik gar nicht mehr verzichten und verwendete diese als integralen Bestandteil der Spannungsbögen. Auch jüngerer Regisseure wie Michael Mann (*1943) in dem Action-Klassiker „Heat“ oder Martin Scorsese (*1942) in dem Psychothriller „Shutter Island“ bedienten sich der einzigartigen Wirkung dieser Musik. Und so wurde Ligets Schaffen sukzessive Teil unserer Populärkultur.


 
a) „Atmosphères“

Beginnen möchte ich mit Ligets bekanntestem Werk: „Atmosphères“. Diese Orchesterstück erlangte große Popularität als Beginn von „2001 – Odyssee im Weltraum“. Noch bevor irgendein Bild erscheint, erklingt diese Musik im Dunkel der ewigen Nacht, vor Beginn des Seins. Doch wer könnte den Hintergrund dieses Werkes besser erklären als der Komponist selbst:

[Atmosphères], das ist eine Musik die den Eindruck erweckt, als ob sie kontinuierlich dahinströmen würde, als ob sie keinen Anfang hätte, auch kein Ende; was wir hören, ist eigentlich ein Ausschnitt von etwas, das schon immer angefangen hat und noch immer weiterklingen wird. Typisch für alle diese Stücke ist: Es gibt kaum Zäsuren, die Musik fließt also wirklich weiter. Das formale Charakteristikum dieser Musik ist die Statik. Die Musik scheint zu stehen, aber das ist nur ein Schein; innerhalb dieses Stehens, dieser Statik, gibt es allmähliche Veränderungen; ich würde hier an eine Wasseroberfläche denken, auf der ein Bild reflektiert wird; nun trübt sich allmählich diese Wasseroberfläche, und das Bild verschwindet, aber sehr, sehr allmählich. Dann glättet sich das Wasser wieder, und wir sehen ein anderes Bild. [...] Um auf Atmosphères, zurückzukommen: etwas Atmosphärisches, also Schwebendes, nicht Festgesetztes, fast Konturloses, ineinander Übergehenedes, anderseits etwas Atmosphärisches im übertragenen Sinn - ich möchte hoffen, oder glaube hoffen zu dürfen, dass das Stück, wenn es auch nicht direkt expressiv ist, so doch auch einen ganz bestimmten Gefühls-, also affektiven Anteil hat, und das ist eben das Atmosphärische oder Ambiancehafte. Ja, ich glaube, weiter kann man darüber nicht sprechen.“ - Ligeti, 1968




Es könnte sein, dass nun viele den Vorwurf hegen, dass sich diese Art von Musik nur durch die Dramaturgie eines bildgewaltigen Films erschließen lässt. Das hab ich mir früher auch immer gedacht, aber jetzt, wo ich zu später Stunde ganz allein in der dunklen Wohnung sitze, verfehlt diese Musik in keinster Weise ihre Wirkung …

schnell zum nächsten Werk


b) „Sonate für Violoncello solo“

Auch zeitgenössische Komponisten haben Gefühle und so kam es, dass der junge Student Ligeti eine ungarische Cellistin heimlich verehrte. Auch Ligeti war Ungar und sehr mit der traditionellen Musik seiner Heimat verbunden. Aus diesem Grund schrieb er ein Werk für Cello solo, das an ungarischer Folklore angelehnt ist und das er seiner angebeteten Cellistin stolz überreichte. Sie nahm es dankend an, spielte es aber nie. Pech für sie, Ligeti gab es etwas später einer anderen, viel berühmteren Cellistin, die es mit Freuden aufführte, berühmt machte und nun untrennbar mit der Aufführungsgeschichte dieses Werkes verbunden ist. (Was aus der anderen Cellistin wurde, ist nicht überliefert ...)

Wir hören nun den ersten Satz „Dialogo“ dieses Meisterwerkes, das die intensive Wechselwirkung zwischen Mann und Frau auf einem einzigen Streichinstrument darstellen soll.

Oder, um es mit Rilkes „Liebeslied“ zu sagen:

„Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.“




c) „Musica ricercata“

Diese Sammlung von Klavierstücken ist ein faszinierendes Beispiel von Ligetis minimalistischer Ökonomie und seinem Sinn für Spannungsbögen. In jedem einzelnen Werk dieser elf Stücke entspinnt sich eine Suche (ricercare ist italienisch für suchen) nach etwas, das möglicherweise nie gefunden wird. Aber vielleicht genau aus diesem Grunde entsteht eine Grundspannung, dass man bis zum Ende der Stücke eine Stecknadel fallen hören könnte.

Das bekannteste Stück dieser Sammlung ist die Nummer zwei. Es ist Teil des Soundtracks von „Eyes wide shut“:




In dieser Sammlung schrieb Ligeti aber auch Stücke, die sich explizit an eine ältere Form anlehnen. Hier ist beispielsweise für alle Tanzfreunde ein Walzer der etwas anderen Art, der unmöglich zu tanzen ist:




Oder für alle Barockfreunde eine Hommage an das barocke Ricercar, einem Vorläufer der Fuge:




d) Der Begriff der „Mikropolyphonie“

Nun, um den Begriff der „Mikropolyphonie“, welche Ligeti entscheidend im 20. Jahrhundert entwickelt hatte, zu erklären, möchte ich etwas grundsätzlicher bei den Ursprüngen anfangen. Wie so vieles in der klassischen Musik hat auch diese Kompositionsweise ihren Ausgang in der Renaissance, namentlich bei dem englischen Komponisten Thomas Tallis (1505-1585). Tallis komponierte ein herausragendes, monumentales Vokalwerk namens „Spem in alium” (“Hoffnung auf einen anderen”), das auf seine Weise revolutionär war. (Ich möchte mich an dieser Stelle bei der jungen Dame bedanken, die mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass dieses Werk im Rahmen des Erotik-Bestsellers “Shades of Grey" Verwendung fand ... ein Beispiel mehr, welch facettenreiche Anwendung Renaissance-Musik finden kann ...)

Wie auch immer, dieses Werk gilt als Höhepunkt der Polyphonie in der Renaissance. Hier verschmelzen acht Chöre mit je fünf verschiedenen Stimmlagen zu einem übergeordneten Ganzen. Das Stück beginnt mit einer einzelnen Stimme, der sich immer mehr anschließen und sich so zu einer Einheit verschmelzen, welche die Melodie durch die verschiedenen Chöre trägt. Diese Chöre kulminieren und führen zu einem Höhepunkt, bei dem alle 40 Stimmen gemeinsam erklingen. Nach diesem Klimax klingt die Intensität durch Verschwinden einzelner Stimmen wieder sanft ab, sodass ein neuer Höhepunkt in variierter Form sich formen kann. Dadurch enstehen immer neue Kontraste und Klangteppiche, die einem in ihren Bann ziehen und eine neue Welt offenbaren. Die räumliche Klangwirkung ist unübertroffen und gehört zu den spirituellen Meisterwerken der Renaissance-Musik:




Und wenn man genau hinhört, so tut man sich schwer, zu entscheiden, ob das Werk polyphon ist oder von einer übergeordneten Homophonie getragen wird. Und genau das war der Ausgangspunkt für Ligetis Mikropolyphonie in Werken wie dem bereits angeführten “Atmosphères” und auch dem folgenden “Lux aeterna”. Hier sind die komplexen Polyphonien einzelner Teile, welche ohne rasche Harmoniewechsel ineinander verschmelzen, in einem musikalischen Fluss eingebettet. Ligeti sprach von einer unscharfen Vernebelung, die sich zu einer neuen Form gestaltet.

Die mystische Entrücktheit von LigetisLux aeterna” scheint Raum und Zeit enthoben und wurde stilbildend für die zeitgenössische Musik und das Filmgenre (auch dieses Werk ist Bestandteil von Kubricks “2001 – Odysse im Weltraum”). Hier wird vorgeführt, was für essenzielle Gedanken der Renaissance uns heute in neuem Kleide erneut begegnen, erneut beschäftigen und erneut die Faszination offenbaren, die sie nie verloren haben:




Ligeti ist die zeitgenössische Antwort und die konsequente Weiterführung vergangener Epochen. Seine Wurzeln reichen weit zurück und seine Blüten erstrahlen heute in noch nie dagewesenem Licht. Das ist die Frucht, die uns Ligetis "Moderne mit Vergangenheit" zur Ernte bietet. 

Wer sie zu ernten wagt, wird reich beschenkt!


Samstag, 23. November 2013

„Impressionismus – Wenn Farbe Klang wird“


Der Begriff „Impressionismus“ klingt sehr kompliziert. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, zunächst zu klären, wo dieses Wort seinen Ursprung hat:

Alles begann in den Frühlingstagen des Jahres 1874 in einem Pariser Salon, wo einige Maler eine Gemäldeausstellung veranstalteten. Einer davon war Claude Monet (1840-1926). Das wäre alles noch nichts Besonderes, doch Monet hatte eine Art zu malen für sich entdeckt, die sich doch sehr von dem herkömmlichen Zeitgeist damals unterschied. Statt klaren Konturen bevorzugte er schemenhafte Gebilde, die in farblich-atmosphärischen Arrangements nebulös ineinander fließen. Monet verließ sich hierbei auf sein subjektives Empfinden, auf seinen subjektiven Eindruck, eben auf seine subjektive Impression. So verwundert es nicht weiter, dass eines seiner Gemälde „Impression soleil levant“ hieß, das einen Sonnenaufgang an einer Küste mit Booten darstellte:



Bis jetzt klingt das alles schön und gut, allerdings kam diese neue Art zu malen bei Kunstkritikern gar nicht gut an. Diese Art von Bildern wurde verrissen und verspottet. Ein Kritiker schrieb sogar in Bezug auf das spezielle Gemälde von Monet:

Eine Tapete im Urzustand ist ausgereifter als dieses Seestück von Monet.“ (Christoph Heinrich: Monet. Taschen, Köln 2006, Seite 32)

Und da dieses Gemälde den Titel „Impression“ trug, wurden die Maler dieses Stils fortan abschätzig als „Impressionisten“ bezeichnet. Da diese Maler-Gilde aber stolz auf ihre neue Poesie der Farben war, wurde dieser Titel als Symbol der Abgrenzung von althergebrachten Maltechniken (wie etwa dem akademischen Klassizismus) übernommen.

Soll das heißen, der Name einer Kunstrichtung hat sich von einem Schimpfwort abgeleitet?

Ja, in der Tat. Das ist aber gar nicht so selten in der Kunstgeschichte. Man denke nur an die Kunstepoche der „Gotik“, die im 12. Jahrhundert ebenfalls in Frankreich entstanden ist. Der Begriff „Gotik“ leitet sich vom italienischen Wort „gotico“ ab, das soviel wie „barbarisch“ oder „fremdartig“ bedeutet (Das hat mit dem ostgermanischen Stamm der Goten zu tun, der im 5. Jahrhundert relativ rücksichtslos in Italien eingefallen ist). Die Italiener wollten mit diesem Begriff lediglich ihre Geringschätzung gegenüber Kunstrichtungen zum Ausdruck bringen, die von ihren antiken Idealen abwichen. Kurzum: Alles, was es nicht schon im alten Rom gegeben hatte, war für die Italiener doof. (Aber das ist eine andere Geschichte!)

Ist ja schön und gut, aber was zur Hölle hat das alles mit Musik zu tun?

Nun, wenn man die impressionistischen Maler betrachtet, welche statt strengen Konturen mehr auf schemenhafte, übergangslose Farbenspiele Wert legten, so kann in der Musik (zeitlich um zirka 20 Jahre versetzt) eine ähnliche Bewegung festgestellt werden. In Paris formte sich ein Komponisten-Kreis, der parallel zur Spätromantik eine ganz eigene Musiksprache fand, welche die Bedeutung der ineinander übergehenden Klangfarben oftmals über die Melodie der Singstimme stellte. Die Melodik gleicht dabei einem wellenförmigen, pendelnden Fluss, der als weicher Klangteppich das Musikstück gestaltet. Hierbei ließen sich die Komponisten von fernöstlichen Tonfolgen inspirieren, welche eine neue Weise von Tonalität (abseits der strengen Dur- und Moll- Tongeschlechter) mit eigenem Regelwerk für sich erschließen und eine exotische, schwebenden Wirkung erzeugen. Auch bei der Rhythmik wurden schroffe Wechsel zu Gunsten eines sich stetig verändernden Klangteppichs vermieden.

An vorderster Front dieser Bewegung stand Claude Debussy (1862-1918), welcher der geistige Vater dieses Paralleluniversums der Tonalität war. Debussy kam mit fernöstlicher Melodik das erste Mal bei der Weltausstellung in Paris 1889 in Berührung und war derart fasziniert davon, dass er sie seiner eigenen Musiksprache einverleibte. Das war die Geburtsstunde des musikalischen Impressionismus. Die schwebende, weiche Wirkung von Debussys Musik wurde weltbekannt und beeinflusste viele weitere Komponisten. Debussy sah sich selbst genau wie Monet als ein Maler (nur in diesem Fall von Klängen und Tönen), der einen Kompromiss zwischen Natur und Imagination suchte.

Doch genug der vielen Worte! So hört sich ein frühes Werk von Debussys Tonmalerei an:



Ich hoffe, ich bin nicht der Einzige, der bei Klängen wie von „Claire de lune“ etwas ins Träumen gerät!

Debussy entwickelte seine Tonsprache sehr schnell weiter und schrieb einige Werke, die fast ausschließlich auf exotischen Tonfolgen basierten. Eine solche ist beispielsweise die Ganztonleiter, bei der die Tonschritte nur aus großen Sekunden bestehen. Das bedeutet: Wenn man eine Klaviatur vor sich hat, darf man beim Spielen dieser Tonleiter (egal wo man beginnt) nur Ganztonschritte verwenden. Somit fehlen die Halbtonschritte, welche für Dur und Moll notwendig wären, und schon kommt ein exotisches, fremd anmutendes Klangbild dabei heraus, das unseren üblichen Tonleitern enthoben ist.

Ein weiteres Beispiel wäre die Pentatonik (die Fünf-Tonmusik): Man versuche auf einer Klaviatur lediglich die fünf schwarzen Tasten zu spielen. Egal wie man es anstellt, es wird immer fernöstlich klingen.

Versucht es! Ihr werdet überrascht sein!

Und wenn ein Meister der Klangfarben wie Debussy ein Musikstück rein in Ganztonleiter komponiert, dann klingt das so:



Klingt schon sehr entrückt, nicht wahr? Schwebende Klangfarben ohne Kontur ...

Doch es gibt auch weniger extreme Beispiele des Impressionismus. Ein weiterer impressionistischer Großmeister namens Maurice Ravel (1875-1937) komponierte zum Beispiel ein wunderschönes Werk mit dem Namen „Pavane pour une infante défunte“ („Pavane für eine verstorbene Prinzessin“), das tiefromantisch beginnt, aber sehr schnell in impressionistische Sphären übergeht (und zwar bei Minute 0:31) und dann immer wieder zwischen diesen beiden Stilen alterniert:



Eine Pavane war ein spanischer Gesellschaftstanz aus dem 16. Jahrhundert, der hier nur mit etwas Mühe hineininterpretiert werden kann. Und wenn jemand den Titel von diesem Meisterwerk interpretieren möchte, so rate ich zur Vorsicht. Dieses Klavierstück wurde zwar einer Prinzessin gewidmet, doch lebte diese noch relativ lebendig weitere vierzig Jahre. Einmal soll Ravel lapidar gesagt haben, man solle den Titel nicht zu sehr hinterfragen, er mochte einfach den Klang der Worte!

Ja, so sind sie, die Impressionisten … der Klang ist alles!

Aber der Impressionismus fand nicht nur am Klavier Entfaltung. Weltbekannt und wild umstritten wurde der Impressionismus 1894 durch die Uraufführung eines Orchesterwerks von Debussy mit dem wunderschönen Namen „Prélude à l’après-midi d’un faune“ („Vorspiel zum Nachmittag eines Faunes“).

Eine sehr berechtigte Frage wäre nun: Was zum Geier ist ein Faun?

Da musste auch ich kurz nachschlagen: Der Faun ist ein wolfsähnlicher Gott der indogermanischen Einwanderer in Italien und gilt als Beschützer der freien Natur, der Hirten und der Bauern. Sollte man sich eine Ziegen- oder Schafherde in Italien zulegen wollen, sollte man diese Gottheit anbeten. Größere Berühmtheit hat seine Schwester oder Frau (oder beides!?) erlangt, die Fauna hieß und heute noch als ein Synonym für die Tierwelt gilt.

Aber das ist eigentlich alles gar nicht so wichtig, um diese Musik zu genießen und in eine Sphäre einzutauchen, die sich voll und ganz der impressionistischen Farbenwelt hingibt und als erster großer Meilenstein dieser Epoche gilt:



Abschließen möchte ich diesen Artikel mit einem Werk, das jeder kennt, auch wenn die Musik nicht unmittelbar geläufig ist. Es handelt sich um die sinfonische Dichtung „Der Zauberlehrling“ von einem weiteren impressionistischen Meister namens Paul Dukas (1865-1935), das uns als "Kehraus" dieses Artikels dienen soll. In diesem Werk wechseln sich impressionistische Klangsphären mit spätromantischen Einfällen auf witzige Weise ab. Darüber hinaus konnte durch Walt Disney diese Tondichtung in jedes Kinderzimmer Einzug halten und jedes Kinderherz im Sturm erobern:




Wer das letzte Video bis zum Ende gesehen hat, der könnte die Impression haben, dass das Wort „Kehraus“ für diesen Artikel durchaus wörtlich gemeint ist.

So ist das, wenn Klang nicht nur Farbe, sondern gleich ein ganzer Zeichentrickfilm wird ... 

Freitag, 22. November 2013

„Schubert – Pathologie am Klavier“


Sowohl der Komponist als auch der Mensch Franz Schubert (1797-1828) sind nicht zu beneiden. Zeitlebens litt dieser im Schatten seines Vorbildes Ludwig van Beethoven (1770-1827), erlebte nur ein einziges öffentliches Konzert seiner Werke und bei Verlagen hatte er auch kein glückliches Händchen. Zusätzlich war er angeblich eine unansehnliche Gestalt, hatte kein Glück bei Frauen und bekam mit zirka 24 Jahren bei einem (vermutlich) entgeltlichen Liebesabenteuer die damals unheilbare Krankheit Syphilis, was sein Todesurteil bedeutete. Die letzten Jahre seines Lebens lebte er verarmt und schwer krank auf dem Dachboden seines Bruders und starb dort mit 31 Jahren an Typhus.


Normalerweise würde eine solche Existenz sehr schnell in der Bedeutungslosigkeit der Geschichte verschwinden und vergessen werden. Doch in diesem Fall es das etwas anderes: Es handelt sich hier um einen der größten Komponisten, der je gelebt hat und der im Schwinden seiner Lebenskräfte zu musikalischen Höchstleistungen erstarkt ist, welche beispiellos in der Musikgeschichte sind. Die Werke, welche Schubert in seinen letzten Jahren seines tragischen Lebens komponierte, gehören zum Beeindruckendsten und Intensivsten der Romantik, nein, der klassischen Musik im Allgemeinen. Schuberts Musik ist unendlich von Trauer und Schmerz getragen und sie war sein Ventil, sein Leid in die Welt hinauszuschreien. Hierfür sprengte er die dynamische Ausdruckskraft der bisher üblichen klassischen Musik und erweiterte die Lautstärkenextreme vom kaum hörbaren piano pianissimo bis hin zu dem an der Schmerzgrenze liegenden forte fortissimo.

Schuberts tragisches Schicksal offenbarte sich auch hier: Dieser Schrei wurde erst von der nächsten Generation gehört, die seine großen Werke zur Uraufführung brachte, als Schubert schon längst verstorben war.

Ein Beispiel ist der langsame Satz (Andantino) seiner vorletzten Klaviersonate in A-Dur D 959, die unaufgeführt und unveröffentlicht in einer Lade neben Schuberts Sterbebett gefunden wurde. Dieser Satz besitzt eine dreiteilige Liedform A-B-A' und beginnt im ersten Teil mit einer Melodie so voller Weltschmerz, der man sich kaum erwehren kann. Der Mittelteil dieses Satzes (ab Minute 2:55 in der Hörprobe) gibt die Lautstärkenextreme in Schuberts Werk wieder und gehört zum Revolutionärsten und Schockierensten, das Schubert je komponiert hat: Qualvolle, dissonante Folgen von sich steigernden Ausbrüchen entführen einen in Sphären, welche die konventionelle Formsprache sprengen, wie es erst Arnold Schönberg (1874-1951) mit seinem op.11 im Jahre 1909 als Nächstes gelingen sollte.

Was wollte Schubert damit Ausdrücken? Ein Schrei voll ohnmächtiger Wut? Musikwerdung von Schuberts Fieberschüben? Darstellung des Endstadiums von Syphilis und Typhus? Die Ahnung des nahen Todes? Die Furcht sein Leben verwirkt zu haben? Die Fragen werden ewig unbeantwortet bleiben. Im dritten Teil dieses Satzes wird der erste Abschnitt mit einer zusätzlichen, unendlich verletzlichen Überstimme wiederholt, bevor die Musik für immer in sich erstirbt.

Diese Musik ist ein Mysterium, das ohne Worte Bestand finden muss. Zwei Monate später starb Schubert unerhört und unverstanden auf dem Dachboden seines Bruders.