Dienstag, 28. Januar 2014

„Humor in der Klassik - Teil 1 – Der gebratene Schwan singt“


Klassische Musik kann ja sehr viele Gefühlsebenen transportieren und bietet fast zu jedem Augenblick die passende Begleitung. Aber mal unter uns:

Habt ihr schon mal die Vertonung eines Schwanes gehört, der sterben muss?

Jetzt werden vermutlich viele leidenschaftlich bejahen und auf Camille Saint-Saens' (1835-1921) liebevolle Suite „Karneval der Tiere“ verweisen, in der auch der Schwan vorkommt. Das Musikstück des Schwanes wurde später für die Primaballerina Anna Pavovla (1881-1931) zu einem Tanzsolo namens Der sterbende Schwan“ umgearbeitet und gehört zu einem der berühmtesten Ballett-Choreographien der Welt.

Die träumerische Musik dazu ist folgende:





Ich gebe aber gerne zu, dass diese melancholische Poesie wenig mit Humor zu tun hat.

Somit muss ich meine Frage anders formulieren:

Habt ihr schon mal die Vertonung eines Schwanes gehört, dem das Genick gebrochen und der anschließend auf einem Spieß über Feuer gegrillt wird und über sein Leid singt?

Nein?! Ha, aber auch das gibt es in der klassischen Musik.


Carl Orff (1895-1982) machte dies in seiner szenischen Kantate „Carmina Burana“, in der mittellateinische und mittelhochdeutsche Texte vertont wurden, möglich. Eine Szene heißt „Cignus ustus cantat“ („Der gebratene Schwan singt“). Hier handelt es sich ebenfalls um einen sterbenden Schwan, der anfangs sogar noch relativ munter herumspringt. Allerdings geschieht in Minute 0:25 der Hörprobe etwas, das sich wohl jeder selbst ausmalen kann.

Danach erklingt das Leiden des Schwanes am Spieß, der über dem Grillfeuer brutzelt und immer wieder vom Refrain des Chores unterbrochen wird, der ihn bedauert.

Da der Text in Latein ist, sei hier die deutsche Übersetzung gegeben:


Schwan:
Einst schwamm ich auf den Seen umher,
Einst lebte ich und war schön,
Als ich ein Schwan noch war.

Chor:
Armer, armer! Nun so schwarz
Und so arg verbrannt!

Schwan:
Es dreht und wendet mich der Koch.
Das Feuer brennt mich sehr.
Nun setzt mich vor der Speisemeister.

Chor:
Armer, armer! Nun so schwarz
Und so arg verbrannt!

Schwan:
Jetzt liege ich auf der Schüssel
Und kann nicht mehr fliegen,
Sehe bleckende Zähne um mich her!

Chor:
Armer, armer! Nun so schwarz
Und so arg verbrannt!






Klassische Musik kann somit nicht nur beflügeln und inspirieren … sie kann auch appetitanregend sein!

Mahlzeit!!

Montag, 20. Januar 2014

„Gesualdo – Blutbefleckte Musik“


Was haben der Spätrenaissance-Komponist Carlo Gesualdo (1560-1611) und der frühbarocke Maler Caravaggio (1571-1610) gemeinsam?



Richtig, sie waren nicht nur Meister ihres Faches sondern auch Mörder! (Ich bin mir sicher, alle, die einen epochenübergreifenden Diskurs gefürchtet haben, werden nun erleichtert aufatmen!)

Der adelige Gesualdo war mit einer jungen Frau namens Maria d'Avalos verheiratet, die es mit der Treue allerdings nicht allzu ernst nahm. Sie hatte über Jahre eine Affäre mit einem Mann, ohne dass Gesualdo etwas davon erfahren hatte. Als diese Affäre jedoch 1590 ans Tageslicht kam, täuschte Gesualdo einen mehrtägigen Jagdausflug vor. Sein Plan war aber, am selben Abend wieder heimlich heimzukehren, um seine Frau in flagranti mit ihrem Liebhaber zu erwischen. Dieses Vorhaben gelang! Im Blutrausch griff Gesualdo zum Dolche und er erstach seine Frau im Affekt. Er soll unzählige Male auf sie eingestochen haben, um sich ihres Todes zu vergewissern. Auch der Liebhaber und das gemeinsame Kind mit seiner Frau starben noch am selben Abend. Allerdings sind hier die Quellen zu unsicher, ob dies von Gesualdo selbst oder von seinen „Jagdfreunden“ durchgeführt wurde. Dem toten Liebhaber ließ er den Kopf abschneiden und in das Nachthemd seiner toten Frau stecken. Die Leichen wurden vor dem Schlosseingang als Warnung für alle ausgestellt.

Schlimme Geschichte, nicht wahr? Wurde Gesualdo zur Rechenschaft gezogen?

Juristisch jedenfalls konnte Gesualdo nicht belangt werden, da damals „Ehrenmorde“ bei Adeligen nicht gesühnt wurden. Dennoch brach Gesualdo kurz darauf zur Flucht auf, da er die Rache der Familienmitglieder der Opfer fürchtete. Er sollte innerlich aber nicht zur Ruhe kommen und wurde von seinem Gewissen und von Depressionen geplagt. In dieser Zeit schrieb er den Großteil seiner Kompositionen, welche Bekenntnisse eines von Reue zerfressenen Sünders sind. Er starb depressiv und in Isolation. (Gerüchte, er sei von seiner zweiten Frau ermordet worden, konnten nicht bestätigt werden.)

Besonders berühmt wurden seine mehrstimmigen nächtlichen Stundengebete und auch sein „Tristis est anima mea“ („Meine Seele ist betrübt“). Diese Musik ist ein Lichtschein in ein Leben, das von Dunkelheit umnachtet und dessen Licht längst erloschen ist:





Sonntag, 12. Januar 2014

„Beethovens Frühwerk – Mozarts Geist aus Haydns Händen“


Heute widmen wir uns ganz und gar der Wiener Klassik und ihren drei Hauptvertretern: Joseph Haydn (1732-1809), Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Ludwig van Beethoven (1770-1827).



Als kleine Einstimmung für diese Epoche soll ein weltbekanntes Klavierwerk aus jener Epoche dienen, Mozarts 3. Satz aus seiner Klaviersonate in A-Dur, KV 331 … der „Türkische Marsch“:





Jeder kennt es, jeder liebt es … Mozarts Geist in Reinkultur!

Ich denke, jeder kennt auch die anderen zwei Komponisten jener Epoche … zumindest vom Hörensagen. Und einige vorgebildete Musikfreunde würden bei Beethoven zumindest das Hören in Zweifel ziehen. Allerdings möchte ich mich heute mit dem jungen Beethoven, als er noch absolutes Gehör hatte, beschäftigen und inwieweit sein Frühwerk von seinen Epochen-Kollegen beeinflusst wurde. Der Einfachheit halber begrenze ich mich hierbei vorerst auf Sonaten für Klavier.

Wie man den Lebenszeiten entnehmen kann, war Beethoven mit Abstand der Jüngste. Haydn könnte sein (wenn auch junger) Großvater sein und Mozart zumindest sein sehr frühreifer Vater. Oder, um es eleganter zu formulieren: Beethoven konnte auf die klassische „Vorarbeit“ beider zurückgreifen, bevor er selbst zu schaffen begann. Das ist sowohl Fluch wie Segen! Denn diese „Vorarbeit“ wurde von keinen Laien getan, sondern von wahren Meistern, welche bereits selbst die harmonische Vollendung in jener Epoche erreichten. Doch wir würden den Namen Beethoven heute nicht kennen, hätte dieser keinen eigenen Weg gefunden, Mozarts und Haydns Erbe fortzuführen, zu ergänzen … und am Ende sogar zu sprengen!

In Beethovens Frühwerk befinden sich viele Reminiszenzen an seine beiden Vorbilder und doch schuf er eine ganz neue Klangwelt, die sich von Mozart und Haydn abhob und nun untrennbar mit dem Namen Beethoven verbunden ist. Und eben diese Klangwelt soll hinsichtlich der frühen Klaviersonaten Beethovens in diesem Artikel vermittelt werden.


A) Die neue Klangwelt

Doch beginnen wir etwas grundsätzlicher ...

Was wenige wissen: Alle drei Meister kannten sich persönlich!

Beginnen wir zunächst bei Haydn und Mozart: Haydn war stets ein väterlicher Freund und liebevoller Konkurrent von Mozart. Mozart nannte ihn in Briefen oft ehrfürchtig „Papa“ und widmete ihm diverse Kompositionen. Haydn war tief beeindruckt von diesem jungen Genie und schrieb an Mozarts Vater:

„Ich sage ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und den Nahmen nach kenne: er hat Geschmack, und über das die größte Compositionswissenschaft.“

Das sind sehr große Worte! Doch Mozart wird ihnen wohl gerecht. Das erkennt man allein an seiner schöpferischen Gabe für wunderschöne Melodien, wie der folgende Kopfsatz der späten Klaviersonate in C-Dur, KV 545 von Mozart beweist:




Das Stück ist ebenfalls bekannt, nicht wahr? Eine ganze Generation ist mit dieser Melodie musikalisch erzogen worden. Es ist die Titelmelodie von „Young People`s Concerts“, wo klassische Musik unendlich bereichernd und liebevoll von einem der größten Dirigenten unserer jüngeren Geschichte vermittelt wurde: Leonard Bernstein (1918-1990).

Der junge Beethoven begegnete Mozart wahrscheinlich im Frühjahr 1787 auf einer Studienreise in Wien. Beethoven wollte Kompositionsunterricht bei Mozart nehmen, was allerdings nicht gelingen sollte, da Beethovens Mutter in Bonn schwer erkrankte und er zur Rückreise gezwungen war und da Mozart ohnehin zu dieser Zeit zu sehr mit der Fertigstellung seiner Oper „Don Giovanni“ zu kämpfen hatte. Unabhängig dessen war Beethoven ein großer Bewunderer Mozarts und tief beeindruckt von dessen Klangwelt, welche er als vollkommen erachtete. Um neben einem Mozart bestehen zu können, musste man neue Wege gehen.

Und das tat Beethoven ...

Wenn man nun den eben gehörten Kopfsatz des späten Mozarts mit einem Kopfsatz des frühen Beethovens vergleicht, so offenbaren sich sehr schnell die Tendenzen, die Beethoven erstrebte: Erweiterung der Form, Steigerung des Ausdrucks und Überwindung des Etablierten. Betrachten wir hierfür den Kopfsatz der ebenfalls in C-Dur stehenden Sonate Beethovens, op.2/3, welche nur wenige Jahre nach Mozarts Sonate entstanden ist. Nach einem lieblichen einleitenden Thema rückt das Thema in Minute 0:23 der Hörprobe explosionsartig in neue, nie zuvor gekannte Sphären, die schon fast symphonische Dimensionen haben. Hinzu kommt ein geistreiches Seitenthema in Moll (0:47), das eine weitere kontrastierende Klangwelt erschließt. In dieser Ambivalenz formt sich ein neuer Kosmos, der Geschichte schreiben wird:




Man erkennt bereits in diesem frühen Werk Beethovens, dass hier ein Genie geboren ist, das unendlich viel zu sagen hat und welches die Wiener Klassik auf eine neue Ebene führen wird.

Doch auch Haydn braucht sich keineswegs zu verstecken! Auch seine Musik sprüht vor Witz und Einfallsreichtum. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist seine späte Klaviersonate in E-Dur, welche in einem ähnlichen Zeitraum wie die vorangegangenen Beispiele und kurz vor Mozarts Tod komponiert wurde. Ein wunderbar melodiöses Thema gestaltet den Rahmen. Doch Haydn wäre nicht Haydn, wenn dieser nicht eine kleine Überraschung vorbereitet hätte. Diese Überraschung ist in diesem Fall ein Abgrund von tiefgründiger Musik, die ausdrucksstärker nicht sein könnte. In Minute 3:38 beginnt ein Zwischenspiel, das zu Haydns dunkelsten und beeindruckendsten gehört:




(Jetzt wissen wir auch, welches Musikstück Tom Cruise im Film „Interview mit einem Vampir“ vor Brad Pitt am Klavier spielt.)

Beethoven und Haydn lernten sich Ende 1790 in Bonn kennen. Haydn erkannte sehr schnell Beethovens Talent, vermittelte diesen nach Mozarts Tod erneut nach Wien und vollbrachte das, was Mozart Jahre zuvor nicht gelungen war: Er wurde Beethovens Lehrer.

Ein geistreicher und weitsichtiger Mäzen namens Ferdinand Ernst von Waldstein (1763-1823) erfand hierfür die wunderbare Formel, dass Beethovens nun „Mozarts Geist aus Haydns Händen“ erhalte.

Um die Wechselbeziehung zwischen Beethoven und Haydn zu illustrieren, sei erneut Beethovens Sonate op.2/3, von der wir eben den ersten Satz gehört haben, herangezogen. Beethoven widmete diese seinem Lehrer Haydn und das wohl mit gutem Grund. Zum einen steht der zweite Satz in der selben Tonart wie jener von Haydn (E-Dur) und zum anderen spielt hier Beethoven förmlich mit dem Kontrast zwischen hell und dunkel, den Haydn in seinem Werk so großartig erschaffen hat.

Beethoven beginnt sein Werk in E-Dur. Musikfreunde mit feinem Gehör erkennen sofort, dass es an das Thema des einleitenden ersten Satzes angelehnt ist (nur etwas langsamer). Doch in Minute 1:04 der Hörprobe driftet Beethoven nach Moll in ungeahnte Tiefen und Seelenabgründe ab, die in Minute 2:19 gespenstische Dimensionen finden, die selbst Haydns Werk in den Schatten stellen. Derart intensive und intime Musik hat es zuvor nicht gegeben. Sie ist die Schöpfung von Beethovens Geist und ein unsterbliches Beispiel seiner poetischen Klangeskraft:




B) Reminiszenzen an Mozart und Haydn

Beethovens Durchbruch zu seinem eigenen, vollendeten Ausdrucksstil gelang mit seiner frühen Klaviersonate in c-Moll, op.13 im Jahre 1798, die als „Pathetique“ in die Geschichte einging. Nachdem Haydn sie gehört hatte, soll er angeblich zu Beethoven gesagt haben, dass dieser von nun an nicht mehr sein Schüler sei, da er ihm nichts mehr beibringen könne, da Beethoven dessen Formschema perfekt verinnerlicht und im Ausdruck eigene Vollendung erreicht hatte. Ob diese Anekdote stimmt oder nicht ist unerheblich. Wichtig ist, dass Beethoven hier ein großes, epochemachendes Meisterwerk gelungen ist, das an subjektiven Weltschmerz nicht zu übertreffen ist und schon an der Pforte zur nächsten Epoche, der Romantik, kratzt.

Als Beispiel soll uns der zweite Satz dieser Sonate dienen, der wohl zu den bekanntesten Klavierwerken Beethovens gehört:




Dass es sich bei diesem Satz um eine insgeheime Reminiszenz an Mozart handelt, wissen wenige. Mozart schrieb einige Jahre zuvor ebenfalls eine Klaviersonate in c-Moll, KV457. Man höre nun den zweiten Satz dieser Sonate und vergleiche diesen mit jenem Beethovens. Zwei Meister, eine Idee und doch zwei Klangwelten. Es entscheide jeder für sich, welche Welt ihn mehr berührt:




Verblüffend, nicht wahr?

Als kleine Schlusspointe möchte ich mit einem Vergleich abseits der Klaviersonaten schließen, der verwegen anmutet, aber irgendwie auf der Hand liegt.

Mozart schrieb als zwölfjähriges Wunderkind eine wunderschöne Oper namens „Bastien und Bastienne“, KV50. Diese Oper besitzt eine liebreizende Ouvertüre, die in jedes Herz Einzug halten kann:




Wurde dieses Werk gekannt? Nein?!?

Nun, ich vermute, Beethoven kannte sie, denn er machte aus dem Hauptthema ein unsterbliches Meisterwerk, den ersten Satz seiner 3. Symphonie, der „Eroica“, die seinen Durchbruch als Symphoniker bedeutete:




Die „Eroica“, op.55 wird von vielen Musikexperten als Meilenstein in Beethovens Schaffen und in der Symphonik im Allgemeinen angesehen. Spätestens hier endet das Frühwerk, hier beginnt Beethovens eigentlicher Siegeszug durch die Musikgeschichte ...

Donnerstag, 2. Januar 2014

„Passacaglia – Ein Universum mit stetem Bass“



Passacaglia?! Oh je, was für verworrene Kraftausdrücke benutzt dieser verrückte Blogger denn jetzt schon wieder?

Ich gebe gerne zu, dass das Wort Passacaglia etwas exotisch klingt. Allerdings handelt es sich hierbei ursprünglich (wie so oft) lediglich um einen spanischen Volkstanz, der eine ganz spezielle Eigenschaft besitzt. Der Begriff leitet sich aus dem Spanischen von „pasar una calle“, was so viel bedeutet wie „eine Straße entlanggehen“, ab. Und damit ist die Eigenschaft dieser Form insgeheim schon ganz gut beschrieben, nämlich als eine Richtlinie, die uns das ganze Werk lang begleiten wird. Diese Richtlinie ist der stete Bass (Basso ostinato), der die (sich immer wiederholende) Basis bildet, über der sich ein Variationswerk entwickelt.

Durch diese vordefinierte Grundlage lässt sich ein vielschichtiges, ja geradezu wundersames Universum erschließen. Die Passacaglia ermöglicht jedoch noch viel mehr: Man kann durch ihre prägnante Konstruktion sehr schnell die Eigenheiten jener Epoche erkennen, in der sie komponiert worden ist.

Ist dies Motivation genug? Es fehlen noch anschauliche Hörbeispiele, um den Begriff ganz zu verstehen?

Nun, dafür ist dieser Artikel da!


A) Renaissance – Barock

Um 1600, als die Renaissance ihrem Ende zuging und das Tor des Barocks langsam aufgestoßen wurde, entstand eine unsterbliche Passacaglia durch den wunderbaren Stefano Landi (1587-1639). Er nannte diese „La Passacaglia della Vita“, also „Die Passacaglia des Lebens“. Und ganz so Unrecht kann er damit nicht haben, denn sie strotzt von Lebenskräften, die trotz des Alters der Komposition nicht altern können. Das Thema der Passacaglia wird, bevor irgendein anderes Instrument in Minute 0:10 einsetzt, zweimal gleich zu Beginn von Lauten vorgetragen. Genau dies ist der Basso ostinato, der die Grundlage für das ganze Stück bildet. Doch dieser beengt das Werk nicht im Geringsten. Man achte, was für eine atemberaubende Vielfalt der Komponist auf diesem Thema entstehen lässt.

Ein Universum, das, wenn einmal entdeckt, nie wieder erlöschen kann!!!




Wurde der Begriff des Basso ostinato verstanden? Ja?

Zur Sicherheit ziehen wir ein Meisterwerk des englischen Barocks heran, die Oper „Dido and Aeneas“. Es wurde von dem Ausnahmegenie Henry Purcell (1659-1695) komponiert und enthält eine sehr bekannte Passacaglia, welche zweiteilig ist. Im ersten Teil handelt es sich um eine geniale Passacaglia für vier Gitarren. Das gleichbleibende Bassthema wird auch hier zu Beginn zweimal vorgetragen, bevor von einer weiteren Gitarre eine wundersame Melodie (0:14) hinzugefügt wird.

Der zweite Teil, die Arie „Oft she visits this lov'd mountain“ lässt die Gitarren verstummen und bringt ein neues Bassthema auf. Dieses wird ab Minute 2:32 in der Hörprobe ebenfalls zweimal wiederholt, bevor der Gesang einsetzt.

Vielleicht sollte kurz erklärt werden, wovon diese Arie handelt:

Hierfür gibt es einen kleinen Ausflug in die römische (griechische) Mythologie: Diana (Artemis) war die Göttin der Jagd und bevorzugte die Gesellschaft von Frauen. Man könnte ihr wohl auch eine amouröse Neigung zu Frauen nachsagen. Männer waren in ihrer Gefolgschaft unerwünscht, um nicht zu sagen: verhasst. Eines Tages wollte jedoch ein Jäger namens Actaeon, seines Zeichens Mann, mit seinen Hunden im Revier von Diana auf die Jagd nach Wild gehen. Unglücklicherweise sah er dabei Diana mit ihrer weiblichen Gefolgschaft beim Baden. Und noch viel schlimmer: Er sah Diana nackt! Das durfte aus Dianas Sicht natürlich kein Mann, worauf sie beschloss, dass der arme Actaeon sterben muss. Sie verwandelte ihn daraufhin in einen Hirschen und ließ ihn von seinen eigenen Hunden zerfleischen. Ende der Geschichte!

Der venezianische Maler-Großmeister Tizian hielt Actaeons Tod in einem Gemälde fest:



Ich gebe zu, ein Happy End sieht anders aus; aber genau das ist der Stoff, aus dem Mythologie gemacht ist. Und eben auch so mancher zweite Teil einer barocken Passacaglia (wie gesagt, ab 2:32):




Ich denke, spätestens jetzt wurde die Besonderheit einer Passacaglia verstanden!

Doch abseits der Mythologie wurde die Form der Passacaglia auch gerne in religiösen Werken verwendet, um hier unmittelbares Leid ausdrucksvoll und würdig zu transportieren. Eines der intensivsten und ergreifensten Beispiele ist wohl die Kreuzigung Jesus (Crucifixus) in der h-Moll Messe, BWV 232 von Johann Sebastian Bach (1685-1750):




Allen entdeckungsfreudigen Lesern sei das wohl virtuoseste und meisterhafteste Beispiel einer Passacaglia nicht vorenthalten. Es handelt sich um Bachs Passacaglia, BWV 582 für Orgel. Dieses Werk gehört zu den Glanzstücken der Orgelliteratur allgemein:




Mir dröhnen nun so richtig die Ohren! Ich denke, es wird Zeit für eine neue Epoche!


B) Impressionismus – Moderne

Die Passacaglia erfreute sich auch im 20. Jahrhundert größter Beliebtheit. Viele Komponisten verschiedenster Stile brachten diese Form in ihren eigenen Tonsprachen zum Ausdruck. Ein sehr intimes Beispiel hierfür ist jenes des Impressionisten Maurice Ravel (1875-1937). Der langsame Satz seines Klaviertrios (für Klavier, Violine und Cello) ist eine in sich gekehrte, höchst sensible Huldigung der Passacaglia:




Aber auch Freunde der zweiten Wiener Schule kommen bei einer Passacaglia auf ihre Kosten. Hier ein wunderbares Beispiel von Alban Berg (1885-1935):




Nicht weniger intim widmete sich Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) der Form der Passacaglia. Auch er schrieb den langsamen Satz seines 2. Klaviertrios, op. 67 in dieser Form. Es sei dazu gesagt, dass Schostakowitsch unter der Terrorherrschaft Stalins komponierte und unter dessen Regime wie so viele Millionen andere unendlich leiden musste. Das spiegelt sich auch in seiner Musik wider, welche aus noch nie zuvor erahnten Abgründen schöpft. Ein Beispiel ist eben dieser Satz, 1944 komponiert:




Diesen Abgründen folgte auch seine 8. Symphonie, welche mitten im zweiten Weltkrieg 1943 entstand und manchmal auch als "Stalingrad-Symphonie" bezeichnet wird. Schostakowitsch wollte mit diesem Werk „den Schrecken des Lebens eines Intellektuellen in der damaligen Zeit“ und die Krankheit des Krieges an sich darstellen. Das gelingt ihm nicht nur mit dem 4. Satz, der ebenfalls eine Passacaglia ist:




Da ich meine Leser nicht mit diesen tiefen, trostlosen Meisterwerken aus dem Artikel entlassen möchte, mache ich ganz bewusst einen chronologischen Fehler in der Kapiteleinteilung und reihe die Romantik nach diesem Kapitel.


C) Romantik

Wo man bei Schostakowitsch vergebens nach Trost sucht, wird man bei dem tiefgläubigen Johann Sebastian Bach fündig. Bach verweist bei allen irdischen Widrigkeiten auf eine höhere Instanz nach dem Tode. Das Chorfinale seiner Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“, BWV 150 beginnt mit den Worten:

„Meine Tage in dem Leide
Endet Gott dennoch zur Freude“

Man kann nun diese religiöse These annehmen oder auch nicht. Darüber mögen andere streiten! Unbestreitbar ist, dass dieses Chorfinale ebenfalls eine Passacaglia ist:




Oh je, der Schreiber dieses Artikels hat anscheinend doch nicht so viel Ahnung von Musik, da er nun Bach schon der Romantik zuordnet!

Keine Sorge, der Schreiber dieses Artikels benutzte Bach nur als barockes Sprungbrett zu einem der größten Meisterwerke der Romantik. In der Romantik wirkte ein Komponist, der ebenso wie Bach zu den größten Meistern der Musikgeschichte zuzuordnen ist. Es ist kein Geringerer als Johannes Brahms (1833-1897), den sein Mentor Robert Schumann (1810-1856) sehr früh bereits als den „Auserwählten“ bezeichnete, „an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten“.

Doch abseits dieser etwas geschwollenen Formulierung hatte Brahms hervorragende Kenntnisse bezüglich der Musik von der Renaissance bis hin zu seiner Gegenwart. Und so kam es, dass Brahms auch auf die eben gehörte Passacaglia von Bach stieß, die ihn offenbar tief beeindruckt haben musste, da er das Bassthema dem Finale seiner vierten und letzten Symphonie zu Grunde legte.

Es sei nun fairerweise zusätzlich erwähnt, dass nicht ganz klar ist, ob es sich bei diesem Satz von Brahms ebenfalls um eine lupenreine Passacaglia oder um eine Chaconne handelt. Eine Chaconne ist mit der Passacaglia zwar eng verwandt, allerdings darf sich das Bassthema etwas ändern. Selbst Musikexperten, die damit Geld verdienen, schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein, welcher dieser zwei Formen dieser Satz nun zuzuordnen sei.

Sölkners Klassik-Kunde mischt sich in diesem Streit nicht ein! Denn, wo selbst Experten sich die Schädel spalten, da soll Sölkners Klassik-Kunde keine einfache Antwort liefern!

Unabhängig dessen handelt es sich bei diesem Satz um eines der größten Glanzstücke der romantischen Symphonik und sollte abseits der exakten Formbezeichnung vollends genossen werden können. Denn auch hier offenbart sich jenes Universum, das wir (hoffentlich) in diesem Artikel lieben lernen durften: