Passacaglia?! Oh je, was
für verworrene Kraftausdrücke benutzt dieser verrückte Blogger
denn jetzt schon wieder?
Ich gebe gerne zu, dass
das Wort Passacaglia etwas exotisch klingt. Allerdings handelt es
sich hierbei ursprünglich (wie so oft) lediglich um einen spanischen
Volkstanz, der eine ganz spezielle Eigenschaft besitzt. Der Begriff
leitet sich aus dem Spanischen von „pasar una calle“,
was so viel bedeutet wie „eine Straße entlanggehen“, ab. Und
damit ist die Eigenschaft dieser Form insgeheim schon ganz gut
beschrieben, nämlich als eine Richtlinie, die uns das ganze Werk lang
begleiten wird. Diese Richtlinie ist der stete Bass (Basso ostinato), der die (sich immer wiederholende) Basis bildet, über der sich ein Variationswerk entwickelt.
Durch diese vordefinierte
Grundlage lässt sich ein vielschichtiges, ja geradezu wundersames
Universum erschließen. Die Passacaglia ermöglicht jedoch noch viel
mehr: Man kann durch ihre prägnante Konstruktion sehr schnell die
Eigenheiten jener Epoche erkennen, in der sie komponiert worden ist.
Ist dies Motivation
genug? Es fehlen noch anschauliche Hörbeispiele, um den Begriff ganz
zu verstehen?
Nun, dafür ist dieser
Artikel da!
A) Renaissance – Barock
Um 1600, als die Renaissance ihrem Ende zuging und das Tor des
Barocks langsam aufgestoßen wurde, entstand eine unsterbliche
Passacaglia durch den wunderbaren Stefano Landi (1587-1639). Er
nannte diese „La Passacaglia della Vita“, also „Die
Passacaglia des Lebens“. Und ganz so Unrecht kann er damit nicht
haben, denn sie strotzt von Lebenskräften, die trotz des Alters der
Komposition nicht altern können. Das Thema der Passacaglia wird,
bevor irgendein anderes Instrument in Minute 0:10 einsetzt, zweimal
gleich zu Beginn von Lauten vorgetragen. Genau dies ist der Basso
ostinato, der die Grundlage für das ganze Stück bildet. Doch dieser
beengt das Werk nicht im Geringsten. Man achte, was für eine
atemberaubende Vielfalt der Komponist auf diesem Thema entstehen
lässt.
Ein Universum, das, wenn einmal entdeckt, nie wieder erlöschen kann!!!
Ein Universum, das, wenn einmal entdeckt, nie wieder erlöschen kann!!!
Wurde der Begriff des
Basso ostinato verstanden? Ja?
Zur Sicherheit ziehen wir
ein Meisterwerk des englischen Barocks heran, die Oper „Dido and
Aeneas“. Es wurde von dem Ausnahmegenie Henry Purcell (1659-1695)
komponiert und enthält eine sehr bekannte Passacaglia, welche
zweiteilig ist. Im ersten Teil handelt es sich um eine geniale
Passacaglia für vier Gitarren. Das gleichbleibende Bassthema wird
auch hier zu Beginn zweimal vorgetragen, bevor von einer weiteren Gitarre
eine wundersame Melodie (0:14) hinzugefügt wird.
Der zweite Teil, die Arie
„Oft she visits this lov'd mountain“ lässt die Gitarren
verstummen und bringt ein neues Bassthema auf. Dieses wird ab Minute
2:32 in der Hörprobe ebenfalls zweimal wiederholt, bevor der Gesang
einsetzt.
Vielleicht sollte kurz erklärt werden, wovon diese Arie handelt:
Vielleicht sollte kurz erklärt werden, wovon diese Arie handelt:
Hierfür gibt es einen
kleinen Ausflug in die römische (griechische) Mythologie: Diana
(Artemis) war die Göttin der Jagd und bevorzugte die Gesellschaft
von Frauen. Man könnte ihr wohl auch eine amouröse Neigung zu
Frauen nachsagen. Männer waren in ihrer Gefolgschaft unerwünscht, um
nicht zu sagen: verhasst. Eines Tages wollte jedoch ein Jäger namens Actaeon,
seines Zeichens Mann, mit seinen Hunden im Revier von Diana auf die Jagd nach Wild gehen. Unglücklicherweise sah er dabei Diana mit
ihrer weiblichen Gefolgschaft beim Baden. Und noch viel schlimmer: Er
sah Diana nackt! Das durfte aus Dianas Sicht natürlich kein Mann,
worauf sie beschloss, dass der arme Actaeon sterben muss. Sie
verwandelte ihn daraufhin in einen Hirschen und ließ ihn von seinen
eigenen Hunden zerfleischen. Ende der Geschichte!
Der venezianische
Maler-Großmeister Tizian hielt Actaeons Tod in einem Gemälde fest:
Ich gebe zu, ein Happy
End sieht anders aus; aber genau das ist der Stoff, aus dem
Mythologie gemacht ist. Und eben auch so mancher zweite Teil einer
barocken Passacaglia (wie gesagt, ab 2:32):
Ich denke, spätestens
jetzt wurde die Besonderheit einer Passacaglia verstanden!
Doch abseits der Mythologie wurde die Form der Passacaglia auch gerne
in religiösen Werken verwendet, um hier unmittelbares Leid
ausdrucksvoll und würdig zu transportieren. Eines der intensivsten
und ergreifensten Beispiele ist wohl die Kreuzigung Jesus (Crucifixus)
in der h-Moll Messe, BWV 232 von Johann Sebastian Bach (1685-1750):
Allen
entdeckungsfreudigen Lesern sei das wohl virtuoseste und
meisterhafteste Beispiel einer Passacaglia nicht vorenthalten. Es
handelt sich um Bachs Passacaglia, BWV 582 für Orgel. Dieses Werk
gehört zu den Glanzstücken der Orgelliteratur allgemein:
Mir dröhnen nun so
richtig die Ohren! Ich denke, es wird Zeit für eine neue Epoche!
B) Impressionismus –
Moderne
Die Passacaglia erfreute
sich auch im 20. Jahrhundert größter Beliebtheit. Viele Komponisten
verschiedenster Stile brachten diese Form in ihren eigenen
Tonsprachen zum Ausdruck. Ein sehr intimes Beispiel hierfür ist
jenes des Impressionisten Maurice Ravel (1875-1937). Der langsame
Satz seines Klaviertrios (für Klavier, Violine und Cello) ist eine
in sich gekehrte, höchst sensible Huldigung der Passacaglia:
Aber auch Freunde der zweiten Wiener Schule kommen bei einer Passacaglia auf ihre Kosten. Hier ein wunderbares Beispiel von Alban Berg (1885-1935):
Nicht weniger intim
widmete sich Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) der Form der
Passacaglia. Auch er schrieb den langsamen Satz seines 2.
Klaviertrios, op. 67 in dieser Form. Es sei dazu gesagt, dass
Schostakowitsch unter der Terrorherrschaft Stalins komponierte und
unter dessen Regime wie so viele Millionen andere unendlich leiden musste. Das spiegelt sich auch in seiner
Musik wider, welche aus noch nie zuvor erahnten Abgründen schöpft.
Ein Beispiel ist eben dieser Satz, 1944 komponiert:
Diesen Abgründen folgte
auch seine 8. Symphonie, welche mitten im zweiten Weltkrieg 1943
entstand und manchmal auch als "Stalingrad-Symphonie" bezeichnet wird. Schostakowitsch wollte mit diesem Werk „den Schrecken des
Lebens eines Intellektuellen in der damaligen Zeit“ und die
Krankheit des Krieges an sich darstellen. Das gelingt ihm nicht nur
mit dem 4. Satz, der ebenfalls eine Passacaglia ist:
Da ich meine Leser nicht
mit diesen tiefen, trostlosen Meisterwerken aus dem Artikel entlassen
möchte, mache ich ganz bewusst einen chronologischen Fehler in der
Kapiteleinteilung und reihe die Romantik nach diesem Kapitel.
C) Romantik
Wo man bei
Schostakowitsch vergebens nach Trost sucht, wird man bei dem
tiefgläubigen Johann Sebastian Bach fündig. Bach verweist bei allen
irdischen Widrigkeiten auf eine höhere Instanz nach dem Tode. Das
Chorfinale seiner Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“, BWV
150 beginnt mit den Worten:
Endet Gott dennoch zur
Freude“
Man kann nun diese
religiöse These annehmen oder auch nicht. Darüber mögen andere
streiten! Unbestreitbar ist, dass dieses Chorfinale ebenfalls eine
Passacaglia ist:
Oh je, der Schreiber
dieses Artikels hat anscheinend doch nicht so viel Ahnung von Musik,
da er nun Bach schon der Romantik zuordnet!
Keine Sorge, der
Schreiber dieses Artikels benutzte Bach nur als barockes Sprungbrett
zu einem der größten Meisterwerke der Romantik. In der Romantik
wirkte ein Komponist, der ebenso wie Bach zu den größten Meistern
der Musikgeschichte zuzuordnen ist. Es ist kein Geringerer als Johannes
Brahms (1833-1897), den sein Mentor Robert Schumann (1810-1856) sehr
früh bereits als den „Auserwählten“ bezeichnete, „an dessen
Wiege Grazien und Helden Wache hielten“.
Doch abseits dieser etwas
geschwollenen Formulierung hatte Brahms hervorragende Kenntnisse
bezüglich der Musik von der Renaissance bis hin zu seiner Gegenwart.
Und so kam es, dass Brahms auch auf die eben gehörte Passacaglia von
Bach stieß, die ihn offenbar tief beeindruckt haben musste, da er
das Bassthema dem Finale seiner vierten und letzten Symphonie zu
Grunde legte.
Es sei nun fairerweise
zusätzlich erwähnt, dass nicht ganz klar ist, ob es sich bei diesem
Satz von Brahms ebenfalls um eine lupenreine Passacaglia oder um eine
Chaconne handelt. Eine Chaconne ist mit der Passacaglia zwar eng
verwandt, allerdings darf sich das Bassthema etwas ändern. Selbst
Musikexperten, die damit Geld verdienen, schlagen sich gegenseitig
die Köpfe ein, welcher dieser zwei Formen dieser Satz nun zuzuordnen
sei.
Sölkners Klassik-Kunde
mischt sich in diesem Streit nicht ein! Denn, wo selbst Experten sich
die Schädel spalten, da soll Sölkners Klassik-Kunde keine einfache
Antwort liefern!
Unabhängig dessen
handelt es sich bei diesem Satz um eines der größten Glanzstücke
der romantischen Symphonik und sollte abseits der exakten
Formbezeichnung vollends genossen werden können. Denn auch hier
offenbart sich jenes Universum, das wir (hoffentlich) in diesem
Artikel lieben lernen durften:
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