Die Nacht ist doch ein wunderliches Ding. Ebenso mysteriös wie auch anziehend wirkt das Dunkel, wenn es mit seinem schwarzen Schleier uns umhüllt. Niemand kann diesem Schleier entkommen. Niemand kann die Nacht für sich als ungültig erklären. Wir sind gezwungen mit ihr zu leben und uns mit ihrer wiederkehrenden Präsenz abzufinden.
Dies taten viele Poeten in unzähligen Gedichten. Und in der Romantik, der Epoche, in der die Sehnsucht nach dem Mystisch-Jenseitigen so unendlich groß war, erhielt die Nacht einen besonderen Grad an Inspiration, der sich auch in der Musik niederschlug, den "Nocturnes".
Nocturnes ("Nacht werdend" oder "nächtlich") sind romantische Charakterstücke, die intime Gedanken eines Komponisten zu nächtlicher Stunde Klang werden lassen und Ausdruck eines sensiblen Menschen in diesem dunklen Schleier sind. Es sind meist melancholische Bekenntnisse, in denen ein einsames Gemüt versucht, seiner Sehnsucht und seiner Leidenschaft Herr zu werden oder diese zumindest mitzuteilen.
Vielleicht handelt es sich dabei um leise Dialoge mit der Nacht ...
Wie auch immer ... bevor wir uns nun in Wortmalerei verlieren, versuchen wir die Spurensuche zu den musikalischen Nocturnes, den Urtypen der Romantik, aufzunehmen. Der Komponist, welcher diese einzelnen Nachtstücke als Genre begründete, war nicht (wie viele glauben) Frédéric Chopin (1810-1849) sondern der Ire John Field (1782-1837).
Und wenn man eine Nocturne von John Field hört, so kann man bereits ahnen, wohin die Reise dieses Artikels geht:
Eine melancholische Schönheit, nicht wahr?
Dass der Namen John Field heute nicht mehr so geläufig ist, hat natürlich einen Grund: Chopin! Chopin, diesem Genius des Klaviers, ist es gelungen, dass man den Namen "Nocturne" untrennbar mit ihm in Verbindung bringt. Dies liegt wohl an der unwiderstehlichen Tiefe seiner Nocturnes, die einem unmittelbar in ihren Bann zieht, wie bei jener posthum-veröffentlichten in cis-Moll:
Intensive Musik, nicht wahr?
Chopins bekannteste Nocturne ist wohl jene in Es-Dur, op.9/2:
Doch Chopin ist bei Weitem nicht der einzige, der sich als musikalischer Fürst der Nacht entpuppt. Eine ganze Reihe der ganz großen Komponisten reihen sich dazu ein. Franz Schubert (1797-1828) komponierte beispielsweise ein umwerfend schönes und sehr leidenschaftliches Notturno (das italienische Pendant der "Nocturne") für Klaviertrio (D897). Die leisen, lyrischen Wechsel hin zu schroffen, leidenschaftlichen Abschnitten sollten eines der prägensten Stilmerkmale der Romantik werden:
Wenn schon das Wort Notturno gefallen ist, so sei vollständigkeitshalber auch das berühmteste der Musikgeschichte erwähnt. Es komponierte Franz Liszt (1811-1886) und wurde weltweit als "Liebestraum" in As-Dur bekannt:
Als besonders sensibles Gemüt auf dem Gebiet der Nocturnes gab sich Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) zu erkennen. Er erweiterte in seiner Nocturne op.19/4 die Kleinform zu einem orchestralen Ereignis:
Doch jeder, der nun denkt, Nocturnes seien wunderschöne Blumen, die nur auf romantischem Boden wachsen konnten, der irrt. Auch ein großer Impressionist wie Claude Debussy (1862-1918) beschäftigte sich mit dieser Form und schenkte der Welt drei Nocturnes für großes Orchester, von denen alle drei unnachahmliche Meisterwerke sind.
Hier sei das erste mit dem Titel "Nuages" ("Wolken") vorgestellt:
Nocturnes sind sensible Nachtstücke, die Gefühle transportieren, welche in Worte zu fassen unmöglich ist. Doch vielleicht ist es dem großen Lyriker Rainer Maria Rilke (1875-1926) gelungen, dem Unsagbaren hier eine Schicht mehr abzuringen, als er schrieb:
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit. Und das sind Wünsche: leise Dialoge täglicher Stunden mit der Ewigkeit. Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern die einsamste Stunde steigt, die, anders lächelnd als die andern Schwestern, dem Ewigen entgegenschweigt.
Und möglicherweise ist so manche eben gehörte Nocturne in einer solchen Stunde entstanden ...
Vielleicht handelt es sich dabei um leise Dialoge mit der Nacht ...