Weltliteratur weiß von keiner Zeit. Unabhängig davon, vor wie vielen Jahrhunderten sie enstanden ist, die Kraft uns zu begeistern scheint ungemindert wie am ersten Tage ihrer Schöpfung. Ihre Themen verlieren nie an Gültigkeit. Die eingefangene (vergangene) Welt kann der Gegenwart auch heute noch als schonungsloses Spiegelbild dienen, da die Reflexion des Menschen über sich und die Welt zeitlos ist. So wenig hat der Mensch sich verändert und so entlarvend können Meisterwerke sein.
Eines dieser Meisterwerke ist die "Commedia" von Dante Alighieri (1265-1321). Es handelt sich hierbei wohl um das bedeutendste und epochalste Werk des Mittelalters, auf dessen Schultern die nachfolgenden Generationen die Zeit der Renaissance und des Humanismus langsam einläuten konnten. Dante hält hier Weltgericht in Form einer Jenseitsreise und versucht die wichtigsten philosophischen, theologischen und politischen Strömungen seiner Zeit in einem Werk zu bannen.
Der berühmteste Teil dieser Jenseitsreise ist der erste, das Inferno. Das spiegelt sich auch in der musikalischen Rezeptionsgeschichte romantischer Komponisten mehr als ein halbes Jahrtausend nach Niederschrift des Werkes wider. Zahlreiche Tondichter wurden durch Teile des Infernos zu eigenen Tonschöpfungen inspiriert. Und über diese soll im Rahmen von drei Artikel berichtet werden.
Franz Liszt (1811-1886) war ein mutiger Komponist. Er war nach Dantes Lektüre derart inspiriert, dass er trotz der Monumentalität und Vielschichtigkeit des Werkes nicht zurückschreckte, Tondichtungen über das gesamte Inferno zu entwerfen. Dies tat er einmal für Klavier und später in Form einer neuen Komposition für großes Orchester, welche im Jahre 1857 uraufgeführt wurde. Der erste Teil des Orchesterwerks soll uns im heutigen Artikel beschäftigen. Hier widmet sich Liszt der Inschrift über dem Eingangtor zum Inferno, über der Pforte der Hölle.
"Per me si va nella città dolente,
per me si va nell'etterno dolore,
per me si va tra la perduta gente.
Giustizia mosse il mio alto fattore;
fecemi la divina podestate,
la somma sapïenza e 'l primo amore.
Dinanzi a me non fuor cose create
se non etterne, e io etterno duro.
Lasciate ogne speranza, voi ch'entrate."
Canto 3, Vers 1-9
("Der Eingang bin ich zu der Stadt der Schmerzen,
Der Eingang bin ich zu den ew'gen Qualen,
Der Eingang bin ich zum verlor'nen Volke.
Gerechtigkeit bestimmte meinen Schöpfer,
Geschaffen ward ich durch die Allmacht Gottes,
Durch höchste Weisheit und durch erste Liebe.
Vor mir entstand nichts, als was ewig währet,
Und ew'ge Dauer ward auch mir beschieden;
Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren.")
Übersetzung Karl Witte, 1865
Die Inschrift verkündet, was einem in der Hölle erwartet, und das klingt nicht nach einem Entspannungsurlaub. Darüber hinaus gibt sie Auskunft über die Entstehungsgeschichte der Hölle: Vor ihr war nur Ewiges. Im mittelalterlichen Weltbild waren dies der Himmel, die Engel und die Ursubstanz. Die Hölle entstand aus diesem Ewigen, da ein Engel namens Luzifer vom Himmel abfiel und verbannt wurde. Er wurde durch die Macht der Dreifaltigkeit, also dem Vater ("Allmacht Gottes"), dem Sohn ("erste Liebe") und dem Heiligen Geist ("höchste Weisheit"), auf die Erde niedergeworfen, wo er bis zum Erdmittelpunkt eindrang. Die Masse an Erde, die hierbei verdrängt wurde, bildet einerseits das Inferno, das sich trichterförmig in verschiedenen Höllenkreisen von der Erdoberfläche zum Erdmittelpunkt hin erstreckt, und andererseits den Läuterungsberg (oder Fegefeuer) auf der gegenüberliegenden Seite, wo die verdrängte Masse aus dem Meer herausragt und an deren Spitze sich das irdische Paradies (oder der Garten Eden) befindet. Seitdem müssen die schweren Sünder im Inferno verweilen und die leichteren Sünder den Läuterungsberg besteigen, um Buße zu tun und um ins Paradies zu gelangen.
Wie auch immer ... Liszt war das alles ziemlich gleichgültig. Er interessierte sich nur für die großartige Anapher der ersten drei Zeilen und für die eher resignative letzte Zeile der Inschrift. Diese vertonte er rein instrumental in d-Moll und mit viel Freude an dem Tritonus. Die Tonart d-Moll war schon bei Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) die Tonart des Todes (man denke nur an sein unvollendetes Requiem); bei Liszt wird sie eben mit der Hölle assoziiert. Und beim Tritonus handelt es sich um ein Intervall, das bereits früher wegen seiner Komplexität als "Diabolus in Musica" (lat. "Teufel in der Musik") bezeichnet wurde.
Die ersten drei Zeilen werden von den Blechbläsern intoniert und mit Paukenwirbel verbunden. Darauf folgt die letzte Zeile "Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren", die auf einem Klangteppich der Streicher von den Blechbläsern rezitativartig vorgetragen wird.
Dies alles geschieht von Minute 0:00 bis 1:12 der Hörprobe. Anschließend beginnt der Abstieg in die Hölle, wo die Schrecken der Vorhölle und des erste Höllenkreises musikalisch progressiv vorgestellt werden. Hier wird teilweise Richard Wagners (1813-1883) revolutionäre "Tristan"-Chromatik vorweggenommen und auch weitere Passagen lassen eher auf zukünftige Musik schließen (z.B. Minute 4:25-4:32).
Doch genug der vielen Worte. Wir wollen uns nun dem ersten Teil dieser umfangreichen Tondichtung rein akustisch widmen:
In Minute 6:52 der Hörprobe beginnt plötzlich ein neuer Abschnitt innerhalb der symphonischen Dichtung. Dante betritt nun den zweiten Höllenkreis. Es ist jener Höllenkreis, wohin die Wollüstigen für immer verbannt wurden. Dante gelang hier eine Sternstunde der Weltliteratur. Dieser Teil des Infernos gehört zum Schönsten und Ergreifendsten, was je ein Dichter erdacht. Liszt war sich dessen bewusst und widmete diesem Höllenkreis einen gewichtigen Teil seiner Komposition. Doch nicht nur er war von dieser Passage aus Dantes Meisterwerk tief ergriffen.
Doch darüber soll im nächsten Artikel ausführlich gesprochen werden...