Glenn Gould (1932-1982) war nicht nur ein genialer Pianist und einer der größten Interpreten von Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Klavier, sondern auch ein hochintelligenter Musikautor und intimer Kenner der Musikgeschichte im Allgemeinen. Speziell der Barock und Bachs "Kunst der Fuge" beschäftigten ihn sein ganzes Leben. Für Gould war die Fuge "eine der dauerhaftesten schöpferischen Erfindungen in der Geschichte des formalen Denkens und eine der ehrwürdigsten Praktiken des musizierenden Menschen"(1).
Goulds Expertise und seine Leidenschaft für jene streng aufgebauten mehrstimmigen Musikstücke waren für den kanadischen Fernsehsender CBC (Canadian Broadcasting Corporation) Grund genug, Gould 1963 eine eigene Fernsehsendung mit dem Titel "The Anatomy of Fugue" zu überlassen.
Was in dieser einen Sendung von Gould dargestellt wurde, gehört zum geistreichsten, kompaktesten und gleichzeitig humorvollsten, was je über Musik ausgestrahlt wurde:
Für alle, die nicht so viel Zeit haben, sich die ganze Episode anzuschauen, sei das letzte Musikstück dieser Sendung ans Herz gelegt. Nachdem Gould den Werdegang der Fuge anhand einer Führung durch die verschiedensten Epochen der Musikgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert erläutert hat, lässt er es sich nicht nehmen, die Sendung mit einer eigens komponierten Fuge im Stile Bachs zu schließen. Seine Meisterschaft in der Fugenlehre paart sich hier mit seinem ausgeprägten Sinn für Humor.
Das Ensemble, welches für die Komposition herangezogen wird, ist die ungewöhnliche Besetzung von einem Vokal- und einem Streichquartett. Den Text, den Gould seiner Fuge zugrunde legt, ist ebenfalls von ihm selbst verfasst und könnte humorvoller nicht sein. Er beginnt mit den programmatischen Worten:
"So you want to write a fugue?
You've got the urge to write a fugue,
You've got the nerve to write a fugue,
So go ahead and write a fugue that we can sing."
You've got the urge to write a fugue,
You've got the nerve to write a fugue,
So go ahead and write a fugue that we can sing."
Was sich darauf entspinnt, ist eine vierstimmige Fuge im besten barocken Sinne, gespickt mit vielen Reminiszenzen an Bach und anderen Meistern der Fugentechnik. Die bekannteste Reminiszenz ist wohl in Minute 2:41 der folgenden Hörprobe, in welcher der Beginn des 2. Brandenburgischen Konzertes (BWV 1047) von Bach durch ein Zwischenspiel des Streichquartetts kurz erklingt:
Bei dieser Komposition handelt es sich um ein ungewöhnliches Stück, das in seiner Einzigartigkeit nicht überschätzt werden kann. Es ist ein Werk aus dem 20. Jahrhundert mit einem Fenster in den Barock und zu Bach zurück. Diese Fuge lebt im Rahmen einer bachschen Formstrenge durch den Humor eines modernen Geistes wie Gould, der sein Leben einer Kunst verschrieben hatte, der er nie müde wurde, uns zu vermitteln. Bachs Perfektion war für Gould Auftrag und Herausforderung zugleich.
So spricht auch Gould, wenn er meint, "dass die Fuge eine ursprüngliche Neugierde weckt, die in den Beziehungen von Vorstellung und Beantwortung, von Herausforderung und Erwiderung, von Ruf und Echo das Geheimnis jener stillen, verlassenen Orte zu entdecken sucht, welche die Schlüssel zum Schicksal des Menschen bergen, aber aller Erinnerung seiner schöpferischen Einbildungskraft vorausliegen"(2).
Thank you for writing a fugue, Mr. Gould!
(1)