Johann Sebastian Bach (1685-1750) komponierte in der Zeit des Barocks ein geniales Weihnachtsoratorium, das in aller Munde ist. Franz Liszt (1811-1886) komponierte in der Zeit der Spätromantik ebenfalls ein solches, welches jedoch nahezu in Vergessenheit geraten ist. Diese Tatsache ist eigentlich unverständlich, wenn man bedenkt, dass Liszt hierbei nicht nur wunderbare Musik gelungen ist, sondern ein tiefes Selbstbekenntnis, das zur kompromisslosesten Schöpfung jener Epoche führte. Es handelt sich um ein einsames Meisterwerk, das den weiten Bogen von den lateinisch-romanischen Ursprüngen bis hin zur Klangwelt der Spätromantik spannt und zu Unrecht unbeachtet in der Musikgeschichte auf seine Wiederentdeckung harrt.
Im Leben Franz Liszts gab es um das Jahr 1861 einen Bruch: Er beendete seine Tätigkeit als Kapellmeister in Weimar und ließ sich in einem römischen Kloster nieder, empfing dort die niederen Weihen, wurde Kleriker und versuchte seinem "klösterlich-künstlerischen Ideal näher zu kommen". Diese Annäherung sollte mehr als fünf Jahre dauern. Für viele Biographen Franz Liszts werden seine Jahre in Rom als musikalisch wenig ertragreich und unbedeutend gewertet. Es war aber genau das Gegenteil der Fall: Liszts Suche nach seiner eigenen Spiritualität trug auch kompositorisch Früchte, die allerdings erst viele Jahre nach seiner Zeit in Rom ihre Uraufführung erlebten. Eine der wohl großartigsten Schöpfungen, welche in diesen Jahren entstand, war der erste Teil seines Monumentalwerkes "Christus", sein "Weihnachstsoratorium", das sich sowohl musikalisch als auch gattungsgeschichtlich in all seiner religiösen Offenbarung als einsamer Geniestreich entpuppen soll.
Franz Liszt verarbeitet im Weihnachtsoratorium seine in Rom stattfindende intensive Auseinandersetzung mit Gregorianischen Chorälen, der frühen Vokalpolyphonie und den meisterhaften Messen eines Giovanni Pierluigi da Palestrinas (1525-1594). Das Resultat ist eine Synthese aus Tradition und Moderne, in denen der Klangkosmos eines Palestrinas ebenso Ausdruck findet wie Liszts eigene progressive Harmonik oder die "unendlichen Melodien" seines Schwiegersohnes Richard Wagner (1813-1883). Besonderes Kennzeichen dieses Oratoriums ist der breite Raum, den das Orchester einnimmt: Drei der fünf sehr umfangreichen Sätze sind gigantische symphonische Dichtungen, welche als Medium des Gebetes zur meditativen Verinnerlichung dienen sollen.
Bereits der erste Satz wird rein instrumental gestaltet und dient als intime Einführung in den sakralen Themenkreis des Weihnachtsoratoriums. Vorangestellt sind der Musik die prophezeienden Worte des Jesaja (Jesaja, 45:8):
Rorate caeli desuper,
et nubes pluant iustum:
aperiatur terra,
et germinet Salvatorem.
Tauet Himmel, von oben,
ihr Wolken, regnet den Gerechten:
Es öffne sich die Erde
und sprosse den Heiland hervor.
Dieses Bibelzitat fand früh eine berühmte Gregorianische Verarbeitung, welche als Einzugsgesang zum vierten Adventsonntag in der katholischen Messliturgie dient. Liszt griff diesen Gesang auf und gestaltete den einleitenden Satz als freie, polyphone Fantasie und in sich gekehrte Meditation über das Thema, welches gleich zu Beginn in Erscheinung tritt. Darüber hinaus fungiert dieses als wichtiges Leitmotiv des Oratoriums, das an markanten Stellen in verwandelter Form immer wieder präsent ist. Der Satz befindet sich in der dorischen Kirchentonart und erweckt in seinen sanften, verinnerlichten Klängen eine pastorale Atmosphäre, die im spätromantischen Licht erstrahlt.
Im zweiten Satz verkündet ein Engel in Form eines Sopran-Solos die Geburt des Heilands nach Worten des Lukas-Evangeliums (Lukas, 2:10-14). Diese frohe Kunde wird von einem Frauenchor durch sanfte "Halleluja"- und "Gloria in excelsis"-Ausrufe freudig empfangen. Dabei klingt auch das Gregoriansiche Leitmotiv etwas verschleiert durch. Nachdem der gesamte gemischte Chor sowie das Orchester einsetzt, wird auch das Leitmotiv zu einem immer markanteren Gestaltungselement. Den Höhepunkt des Satzes leitet das "Halleluja" des Chores (ab 5:40) ein und bildet (6:11-6:23) einen lichtdurchfluteten, erhabenen Moment, der sich dem Irdischen zu entheben scheint. Es folgt ein langsames Verklingen der Stimmen und ein Übergehen in ein ruhiges und inniges Pastoralspiel, das die Melodien der Engel und Hirten mit dem Themenmaterial des ersten Satzes auf zarteste, süßeste Weise zu vereinen sucht.
Der dritte Satz gehört zum Berührendsten, das Liszt je geschrieben hat. Es ist ein nahezu a cappella Chorsatz, der lediglich an einigen Passagen von der Orgel unterstützt wird. Es handelt sich um die Hymne "Stabat mater speciosa", welche als Gegenstück zur Passionssequenz "Stabat mater dolorosa" die Freuden der Mutter und der Menschheit im Allgemeinen beim Betrachten des Neugeborenen beschreibt. Dieser Satz spiegelt am deutlichsten Liszts intensive Beschäftigung mit der lateinisch-romanischen Musiktradition wider. Seine demütige, ehrfürchtige Haltung ihr gegenüber könnte keinen schöneren Ausdruck finden als in diesen Satz. Bereits in einem Brief aus Rom an seinen deutschen Kollegen Richard Pohl (1826-1896) aus dem Jahre 1861 artikulierte Liszt seine Bewunderung und Ehrfurcht für Gregorianische Choräle sowie die Messen Palestrinas:
"Es sind tönende Granit- und Porphyr-Säulen, von deren mächtiger Wirkung Sie sich in Deutschland kaum eine annähernde Vorstellung machen können, weil Sie sie nur außerhalb ihrer belebenden Glaubens und Ritus Mitte hören. Obschon in der hiesigen Ausführung eine strenge Critik manches nicht zu beloben fände, so bleibt nichts destoweniger der Gesamteindruck ein erhabener und tief ergreifender - den freilich nur diejenigen empfangen, welche die entsprechende Geistes- und Herzensbefähigung besitzen."
Der vierte Satz mit dem Titel "Hirtengesang an der Krippe" ist erneut als rein instrumentale symphonische Dichtung angelegt. Hier tritt wie schon in Teilen des zweiten Satzes der pastorale Charakter der Musik vollends in Erscheinung, welcher auf volkstümlichen Schalmeiklängen beruht und so bildlich den Eindruck eines Hirtengesanges hervorruft. Das Themenmaterial geht erneut auf jenes der einleitenden Fantasie des ersten Satzes zurück. Darüber hinaus mischt sich ab 4:30 eine sehr freie Bearbeitung des aus dem 16. Jahrhundert stammenden kirchlichen Weihnachtsliedes "Es ist ein Ros entsprungen" bei. Der gesamte Satz ist geprägt von ruhig dahinfließenden Melodien und wird nicht müde, immer neue, farbenreiche Nuancen zu dem innigen Tongemälde beizutragen, um ein ländliches Idyll entstehen zu lassen.
Als Finale folgt eine Tondichtung mit dem Namen "Die Drei Könige", die sich ganz den heiligen drei Königen verschreibt, die nach dem Matthäus-Evangelium (Matthäus, 2:9,11) zu ihrem neugeborenen Heiland aufbrechen, von einem Stern geleitet werden und Gold, Weihrauch und Myrrhe überbringen. Liszt teilt den letzten Satz in drei Episoden, welche alle den selben musikalischen Keim besitzen, welcher wiederum aus dem ersten Satz abgeleitet ist: Zunächst wird der Aufbruch der drei Könige zu ihrem Heiland als gewichtiger, imposanter Marsch dargestellt. Ab Minute 4:29 wird musikalisch das Erscheinen des Sterns am Horizont beschrieben, der den Königen den rechten Weg zur Krippe weisen soll. Das Aufgehen und Aufleuchten des Sternes findet auf wunderbar erhebende Weise in Des-Dur statt. Der Klang wird zu einem hellen Strahlen, das die finsterste Nacht durchbricht und ebenso warm wie innig den Raum zu durchströmen beginnt. Selbst das Glitzern des Sterns wird durch zarte Harfenklänge angedeutet. Sobald die Könige bei ihrem Heiland angekommen sind, beginnt die Übergabe der Geschenke ab Minute 7:15. Dies geschieht auf ernste, hymnisch-preisende Weise. Dannach finden alle drei Episoden noch eine durchführende Verarbeitung, welche das Weihnachtsoratorium ebenso prächtig wie hoffnungsvoll ausklingen lässt.
Sollte jemand meinen, Franz Liszt sei in erster Linie ein oberflächlicher (wenn auch virtuoser) Pianist gewesen, der wird mit diesem Oratorium eines Besseren belehrt. Er war ein großer Komponist und ein ewig Suchender, der auf der Suche nach seiner eigenen Spiritualität Antworten fand und ernten durfte. Viele von diesen Antworten sind in die Musik seines Weihnachtsoratotiums eingeflossen und haben diesem Tiefe verliehen. Und möglicherweise sind diese Antworten so stark, dass sie uns auch heute noch auf unserer eigenen Suche helfen können.
Sollte jemand meinen, Franz Liszt sei in erster Linie ein oberflächlicher (wenn auch virtuoser) Pianist gewesen, der wird mit diesem Oratorium eines Besseren belehrt. Er war ein großer Komponist und ein ewig Suchender, der auf der Suche nach seiner eigenen Spiritualität Antworten fand und ernten durfte. Viele von diesen Antworten sind in die Musik seines Weihnachtsoratotiums eingeflossen und haben diesem Tiefe verliehen. Und möglicherweise sind diese Antworten so stark, dass sie uns auch heute noch auf unserer eigenen Suche helfen können.