Die Musikgeschichte ist reich an Motiven, welche von Komponisten zu verschiedenen Zeiten aufgegriffen und verarbeitet wurden. Selten jedoch waren diese Motive derart knapp und markant wie jenes, von dem heute die Rede sein soll. Es handelt sich hierbei um eine zweitaktige, aufsteigende Sequenz aus nur sieben Akkorden, die eine mystisch-sakrale Aura in sich birgt. Nicht zuletzt deswegen wurde sie oft wesentlicher Bestandteil von Werken, die sich Erkenntnis, Mitleid und Erlösung zu ihren großen Themen machten und in ihren ethisch-musikalischen Ansprüchen neue Dimensionen setzten. Es handelt sich bei diesem Motiv um das sogenannte "Dresdner Amen":
Das "Dresdner Amen" wurde von dem Komponisten Johann Gottlieb Naumann (1741-1801) als Abschluss eines Gegengesangs des Chores zum Fürbittgebet "Christus, erhöre uns!" für die Hofkirche in Dresden geschaffen. Die eindringliche, aufsteigende Symbolik des Motivs führte dazu, dass es bald eine weite Verbreitung fand und sich auch andere Komponisten seiner annahmen. Der erste von Rang und Namen war Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) im Rahmen seiner "Reformations-Sinfonie", op.107, aus dem Jahre 1830. Diese war ein Auftragswerk anlässlich des 300. Jubiläums der Reformation, des Augsburger Bekenntnisses von 1530. Aus diesem Grunde verarbeitete Mendelssohn-Bartholdy in seiner Symphonie zwei protestantische Melodien: im ersten Satz das "Dresdner Amen" und im Finale einen Luther-Choral.
Das "Dresdner Amen" erstrahlt in seiner mystisch-jenseitigen Aura im ersten Satz der Symphonie (von 2:25-3:16 zweimal hintereinander und etwas später von 8:59-9:19 erneut), als hätten die Suchenden für kurze Zeit Gehör bei einem Höheren gefunden, als wäre Erlösung nah:
Auch im Werk Richard Wagners (1813-1883) findet das "Dresdner Amen" Verwendung. Vor allem in Wagners letzter Oper "Parsifal", die im Jahre 1882 mit der Bezeichnung "Bühnenweihfestspiel" uraufgeführt wurde, nimmt es eine zentrale Rolle ein. Hier spielt Wagner variantenreich mit sakraler Aura und religiös begründeter Ethik. Die Oper handelt von dem "reinen Toren" Parsifal, der "durch Mitleid wissend" werden muss, um die Gralsbruderschaft zu retten und selbst Hüter des Grals zu werden. (Der Gral soll bekanntlich jenes Gefäß gewesen sein, welches Jesus Christus beim letzten Abendmahl benutzt und welches später sein Blut aufgefangen hat.) Die Rettung gelingt Parsival schließlich durch das Ablehnen des Kampfes um den Glauben, durch das Streben nach einem höheren Band der Gemeinschaft, welches sich das Mit-Leiden mit dem Nächsten als Maßstab des eigenen Handelns setzt. Es geht um das Begründen eines neuen Bewusstseins mit "einer allgemeinen moralischen Übereinstimmung". Es geht um das Aufbrechen verkrusteter klerikaler Institutionen, um die Absage an Macht und Gewalt, um das Ausbilden und Verfeinern von Empfindungsfähigkeit, Liebe und Demut, um die Abkehr von sich selbst hin zu sozialer Verantwortung. Kurz: Es geht um die Erneuerung des Menschen, um den Weg zur Erlösung. Dieses Bühnenweihfestspiel ist Wagners mystisches Vermächtnis, seine große Gesallschaftsutopie, deren mögliche Verwirklichung er an Parsifal darstellt, deren Umsetzung er aber offen lässt.
Was hat nun das "Dresdner Amen" mit dem "Parsifal" zu tun? Es bildet darin nichts Geringeres als das "Gralsmotiv". Bereits im Vorspiel zum ersten Akt, welches Wagner mit "Liebe- Glaube:-Hoffen?" überschrieben hat, nimmt dieses Motiv eine zentrale Rolle ein. Das Vorspiel beginnt mit dem "Abendmahlsmotiv", das in transzendentaler, jenseitiger Atmosphäre die höhere, sublimierte Liebe in tiefer Versenkung darstellt. Ab Minute 4:54 der Hörprobe erklingt sodann mächtig und klar das "Dresdner Amen" in Form des "Gralsmotivs", gefolgt von dem "Glaubensmotiv" ab 5:28, welches einer Umkehrung des "Gralsmotivs" enstpricht.
Diese drei Motive sind die wichtigsten, aus denen Wagners "Parsifal" besteht. Wenn man bedenkt, dass eines davon dem "Dresdner Amen" entspricht und ein anders sich aus dessen Umkehrung bildet, kann man sich ausmalen, welche bedeutende Stellung das Motiv von Herrn Naumann in der gesamten Oper einnimmt.
Die Wirkungsgeschichte von "Parsifal" war gewaltig und weitreichend, sodass bald niemand mehr vom "Dresdener Amen" Naumanns sprach, sondern nur noch vom "Gralsmotiv" Wagners. Dieses letzte Werk hatte einen enormen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen von Komponisten und bedeutete eine Zäsur in der Operngeschichte allgemein. Oder wie Thomas Mann (1875-1955) einst schrieb: "Vom Parsifal leben und zehren sie alle." Eine Reise nach Bayreuth, denn nur da durfte "Parsifal" ursprünglich aufgeführt werden, kam einer demütigen Pilgerfahrt voller Andacht gleich. Dies blieb auch einem jungen italienischen Musikstudenten Anfang der 1880er Jahre in Mailand nicht verborgen. Sein Name war Giacomo Puccini (1856-1924) und er besorgte sich mit seinem mühsam ersparten Geld umgehend einen Klavierauszug von "Parsifal", den er daraufhin eingehend studierte. In Puccinis ersten Oper "Le Villi" aus dem Jahre 1884, erkennt man neben den wunderbaren italienischen Melodien auch den Einfluss Wagners. Puccini verwendete Leitmotive, von denen eines sehr an das "Gralsmotiv" angelehnt ist. Man höre sich nur im wunderbar lyrischen Preludio der Oper die Oboe in Minute 0:49-1:10 oder noch eindeutiger das ganze Orchester in Minute 2:14-2:18 an und nehme die Verneigung vor Wagner auf italienisch wahr:
Die Wirkungsgeschichte von "Parsifal" war gewaltig und weitreichend, sodass bald niemand mehr vom "Dresdener Amen" Naumanns sprach, sondern nur noch vom "Gralsmotiv" Wagners. Dieses letzte Werk hatte einen enormen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen von Komponisten und bedeutete eine Zäsur in der Operngeschichte allgemein. Oder wie Thomas Mann (1875-1955) einst schrieb: "Vom Parsifal leben und zehren sie alle." Eine Reise nach Bayreuth, denn nur da durfte "Parsifal" ursprünglich aufgeführt werden, kam einer demütigen Pilgerfahrt voller Andacht gleich. Dies blieb auch einem jungen italienischen Musikstudenten Anfang der 1880er Jahre in Mailand nicht verborgen. Sein Name war Giacomo Puccini (1856-1924) und er besorgte sich mit seinem mühsam ersparten Geld umgehend einen Klavierauszug von "Parsifal", den er daraufhin eingehend studierte. In Puccinis ersten Oper "Le Villi" aus dem Jahre 1884, erkennt man neben den wunderbaren italienischen Melodien auch den Einfluss Wagners. Puccini verwendete Leitmotive, von denen eines sehr an das "Gralsmotiv" angelehnt ist. Man höre sich nur im wunderbar lyrischen Preludio der Oper die Oboe in Minute 0:49-1:10 oder noch eindeutiger das ganze Orchester in Minute 2:14-2:18 an und nehme die Verneigung vor Wagner auf italienisch wahr:
Doch nicht nur in Italien zeigte sich Wagners Einfluss, sondern auch im deutschsprachigen Raum. Einer von Wagners größten Verehrern war der Symphoniker Anton Bruckner (1824-1896), der ihm sogar seine dritte Symphonie widmete. Als Bruckner am Ende seines eigenen Lebens an seiner 9. Symphonie arbeitete, versuchte er musikalisch Bilanz zu ziehen und die Summe seines Erreichten dabei einfließen zu lassen. Diese Symphonie sollte sein Abschied von der Welt werden, ein letztes Aufbäumen vor dem ewigen Verstummen dieses großen Meisters. Der Abschluss des Werkes sollte ihm nicht mehr gegönnt sein. Er starb vor Fertigstellung des Finales. Der letzte vollendete Satz war der dritte, das große Adagio, die Suche nach Erlösung eines tiefgläubigen Menschen, seine Sehnsucht nach Gott.
Als Versinnbildlichung dieser Sehnsucht nach Gott, dem im Übrigen diese Symphonie auch gewidmet sein soll, vollzieht Bruckner bereits zu Beginn dieses Satzes Gewaltiges: Er spielt mit der aufsteigenden Eigenart des "Gralsmotivs" ab Minute 0:15, sodass die Musik lichtdurchflutet und warm gen Himmel zu streben scheint. Es stellen sich jenseitige Klangfarben ein, die im tiefsten Glauben einer naiv-genialen Seele wurzeln und ein strahlendes, emporstrebendes Monument entfalten, das nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint.
Als Versinnbildlichung dieser Sehnsucht nach Gott, dem im Übrigen diese Symphonie auch gewidmet sein soll, vollzieht Bruckner bereits zu Beginn dieses Satzes Gewaltiges: Er spielt mit der aufsteigenden Eigenart des "Gralsmotivs" ab Minute 0:15, sodass die Musik lichtdurchflutet und warm gen Himmel zu streben scheint. Es stellen sich jenseitige Klangfarben ein, die im tiefsten Glauben einer naiv-genialen Seele wurzeln und ein strahlendes, emporstrebendes Monument entfalten, das nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint.
Doch nicht nur in Italien oder im deutschsprachigen Raum zeigte sich der Einfluss von Wagners "Parsifal". Auch die iberische Halbinsel blieb davon nicht unberührt. Der große spanische Komponist Manuel de Falla (1876-1946) verwendete das "Gralsmotiv" am Anfang seiner Schauspielmusik "El gran teatro del mundo" aus dem Jahre 1927:
Bald wurde auch die Filmindustrie auf die effektvolle Anwendbarkeit des Motivs aufmerksam. So basiert das Hauptthema der Nachvertonung aus den 1980ern des Stummfilmklassikers "Ben Hur" (1925), der zur Zeit von Jesus Christus spielt, passenderweise auf dem "Gralsmotiv" als Sinnbild des Erlösers:
Auch die Titelmusik des Films "Das Boot" (1981) spielt mit der aufstrebenden Charakteristik des "Gralsmotivs", als erhofften die Insassen eines U-Bootes im zweiten Weltkrieg den Aufstieg zum Licht, die Erlösung. (Auch wenn mit "Aufstieg zum Licht" nur wortwörtlich das Auftauchen zur Wasseroberfläche gemeint sein könnte!)
Lukas Sölkner
Was bedeutet Erlösung eigentlich? Gibt es diese überhaupt? Und wenn ja, welcher Weg führt zu ihr? Über die Antworten dieser Fragen sollen sich klügere Köpfe streiten. Vorerst sollte uns der Gedanke trösten, dass durch Musik der Weg für einen Suchenden etwas erträglicher wird ...
Lukas Sölkner