Sonntag, 25. Juni 2017

"Legenden der Romantik - Wenn Musik erzählt"



Der Begriff der Legende ist eng mit der literarischen Tradition verbunden und dringt in religiös-verklärte Gefilde vor. Man könnte ihn als „das Vorzulesende“ übersetzen, womit der erzählende Gestus von Glaubenswahrheiten oder Heilswirken angedeutet ist. Wenn nun ein Komponist einen Satzteil „Im Legendenton“ überschreibt, so hat dessen Musik ebenso etwas zu erzählen, meist auf mystisch-verklärte Weise. Dies ist jedoch nicht im rein religiösen Sinne motiviert, sondern durch romantische Inspiration, welche - wie früher die Legenden – weitergetragen wird,  bei späteren Geistern Gehör findet und bei diesen in verwandelter Gestalt wieder in Erscheinung tritt.


Robert Schumann (1810-1856), Johannes Brahms (1833-1897) und Antonín Dvořák (1841-1904) waren geniale Komponisten der Romantik, die eng miteinander verbunden waren. Der jeweils Ältere war der Mentor und Förderer des folgenden Jüngeren und entsprechend groß war auch dessen Einfluss. Was nun die Legende betrifft, so kann man ein Thema orten, das von Schumann erfunden wurde und in den Werken der anderen beiden Meister eine wundersame Neuentfaltung, ja Metamorphose erleben durfte. Ob dies ein gewollter Schaffensakt oder schlicht glückliche Inspiration war, sei dahingestellt. Es steht jedem frei, sich aus dem Thema seine eigene Legende zu bilden:

Robert Schumann gilt als das entfesselte romantische Genie schlechthin. Speziell sein frühes Klavierwerk gilt vielen als Höhepunkt seines Schaffens. Aus diesem ragen besonders die drei Fantasien op.17 aus dem Jahre 1836 als einsamer Gipfel hervor. Sie gehören hinsichtlich ihrer musikalischen Substanz sowie geistigen Spannkraft zum Genialsten, was Schumann geschaffen hat. Die freie Behandlung der Sonatenhauptsatzform und die dreisätzige Anlage des Werkes sind eine Verneigung vor Ludwig van Beethoven (1770-1827) und sollen seine Errungenschaften auf dem Gebiet der Klaviersonate in der Romantik weiterführen. Auch darüber hinaus finden sich viele thematische Bezüge zu Beethoven. 

Doch nun zum Legendenton: Dieser befindet sich im ersten Satz nach der wilden, leidenschaftlichen Exposition anstelle einer Durchführung und dauert von Minute 4:44-8:07. Das einsetzende Thema, das „im Legendenton“ vorzutragen ist, beginnt wie aus weiter Ferne eine Geschichte aus vergangenen Zeiten zu erzählen. Es gehört zum Mystischsten, Majestätischsten und Erhabensten, das je Schumanns Feder entsprungen ist. Was darauf folgt, ist eine Legende an sich: Schumann variiert sein Thema und steigert es auf immer progressivere Weise, sodass die scheinbar tiefe Versunkenheit zum Exzess wird und an seinem Höhepunkt in einen unaufgelösten Vorhalteakkord mündet. Dieser Akkord ist mit dem revolutionären „Tristan-Akkord“ von Richard Wagner (1813-1883) ident, welcher allerdings erst 20 Jahre später während der Arbeit an entsprechender Oper enstehen sollte. Schumann gelingt hier also „im Legendenton“ eine seiner kühnsten Eingebungen und gleichzeitig sein visionärstes Meisterwerk.




Das eigentliche Thema (also die „Legende“ an sich) wird von Minute 4:44-5:10 vorgestellt. Und es ist gerade seine Schlusswendung von Minute 5:01-5:10, welche Schule machte und auch in späteren Zeiten (bis hin zur Filmmusik) immer wieder aufgegriffen wurde, wenn von archaischen Geschichten aus vergangenen, romantisierten Zeiten die Rede sein sollte. 

Der erste große Komponist, der Robert Schumanns Legendenton aufgriff, war dessen Schützling Johannes Brahms, der die Schlusswendung in der Vertonung einer eigenen Legende im Jahre 1860 verwendete. Es handelt sich um den mystischen „Gesang aus Fingal“, welcher wie Schumanns Fantasie die Opusnummer 17 trägt und die düstere gälische Welt der Vorzeit heraufbeschwören möchte. Dies gelingt Brahms mit den schwebend wirkenden Stimmen eines Frauenchors, der von zwei Hörnern und einer Harfe begleitet wird. Das ohnehin schon mit fernen Hornrufen und jenseitigem Gesang entrückt beginnende Werk gewinnt mit dem Einsetzen der Harfe ab Minute 0:34 nochmal an mystischem Glanz und Ausdruck. Und genau ab Minute 0:34 beginnt die verdeckte Anspielung an die Schlusswendung von Schumanns Legendenton, welcher auch hier bis Minute 1:25 immer wieder bedeutungsvoll zu tragen kommt.




Antonín Dvořák, dessen Förderer Johannes Brahms war, ließ ebenfalls den Legendenton in eine seiner Kompositionen einfließen. In diesem Fall handelt es sich um das Hauptthema des Adagios seines düsteren Klaviertrios in f-Moll op.65 aus dem Jahre 1883. Der Satz verharrt in sehnsuchtsvoller Stimmung, die von bitter-süßen Melodien getragen wird und einen Keim von Hoffnung in sich birgt. Es ist ein Satz voller Ausdruck, der poetischer nicht sein könnte und durch seinen herzergfreifenden Klagegesang besticht. Voll von Zärtlichkeit nimmt er die Schlusswendung von Schumanns Legendenton in sich auf und macht daraus etwas Eigenes: ein Werk voller Zauber und Magie, dem sich kaum jemand entziehen kann.




So wurden „im Legendenton“ diese Meisterwerke zu eigenen Legenden wunderbarster Musik, welche bis heute nicht müde werden, uns ihre Geschichte zu erzählen. Wir, Bereicherte, können nur dankbar lauschen …





Donnerstag, 15. Juni 2017

"Antonín Dvořák - Die Mittagshexe"


Das Schaffen des großen böhmischen Komponisten Antonín Dvořák erlebte im Jahre 1896 einen Umbruch. War davor sein Werk durch Schöpfungen absoluter Musik geprägt, wie seine neun Symphonien, sein Cellokonzert oder seine Kammermusik bezeugen, so wandte er sich fortan einer weniger traditionellen Gattung, der Symphonischen Dichtung, zu und sollte nie mehr zur absoluten Musik zurückkehren. Symphonische Dichtungen verleihen Musik ein inneres Programm, welches klangliche Entfaltung erlebt, und Dvořák gelangen hierbei unübertroffene Meisterwerke.



Antonín Dvořák (1841-1904) entnahm die Handlung vier seiner Symphonischen Dichtungen (op.107-op.110) aus Balladen des tschechischen Dichters Karel Jaromir Erben (1811-1870), welche voll märchenhafter, farbkräftiger Stimmungen sind. Eine der berühmtesten Balladen geht auf einen unheimlichen Volksmythos zurück und nennt sich „Die Mittagshexe“.

Die Handlung dieser Ballade ist schnell erzählt: An einem idyllischen Tag kurz vor der Mittagsstunde nervt ein kleines Kind seine Mutter. Diese droht dem Kind, dass, wenn dieses nicht brav sei, die Mittagshexe komme und es hole. Da das Kind nicht brav wird, erscheint diese wirklich. Es entbrennt ein Kampf zwischen Mutter und Hexe um das Kind. Als die Mittagsglocken erklingen ist der Spuk gebannt, die Hexe verschwindet. Doch das Kind liegt tot in den Armen der Mutter.

Das ist eine grausame und schreckliche Geschichte. Doch Dvořák war von der Figur der Hexe derart fasziniert, dass er diese in ein dramatisches Tongemälde fassen wollte, um ihr ein abgründiges Denkmal zu setzen. Das Ergebnis sollte ein makaberes Meisterwerk werden - voller Kraft und Dämonie -, eine Symphonische Dichtung, die den Schrecken Klang werden lässt:

Dvořák beginnt die Symphonische Dichtung mit einer Idylle, die den wunderschönen Tag darstellen soll. Diese Idylle wird ab Minute 0:30 in der Hörprobe von einer penetranten Oboe unterbrochen, welche das störende Kind symbolisiert. Darauf beginnt die Mutter ab 1:12 mit dem Kind zu schimpfen und endet mit der Drohung, dass bald die Hexe käme, wenn es nicht sofort artig werde. Diese Drohung von Minute 2:27-2:49 lässt die Musik plötzlich entrückt und jenseitig wirken und wird später beim tatsächlichen Erscheinen der Hexe eine große Rolle spielen. 

Das Kind nimmt allerdings die Drohung nicht ernst und stört erneut die aufkommende Idylle, sodass die Mutter weiter schimpfen muss, bis die Hexe in Minute 5:27 tatsächlich erscheint. Hier erklingt erneut das Motiv der Drohung, welches nun die unheimliche Aura der Hexe beschreibt und breit auskomponiert Gestalt gewinnt. Dieses mündet in das eigentliche Leitmotiv der Hexe, welches von Minute 6:11 an abgründige Dominanz erlangt. Es ist einer der großen Momente der symphonischen Musik, welcher im weiteren Verlauf durch das Fortspinnen des Aura- und des Hexen-Motives an Kraft und Eindringlichkeit gewinnt und so viele Klangfarben der seelischen Abgründe durchläuft. Die intensive Vorstellung der Hexe dauert von Minute 5:27-8:37 und könnte an Spannung sowie Dramatik nicht überboten werden. Die dämonische Unmittelbarkeit dieser schwebenden, dem Irdischen entbunden scheinenden Musik gehört zu Dvořáks genialsten und progressivsten Einfällen.

Von Minute 8:37 an entspinnt sich nun der Kampf zwischen Mutter und Hexe um das Kind. Hier kommen nun auf virtuose Weise alle Motive zusammen und erleben hochexpressive Verflechtung. Es ist ein Kampf um Leben und Tod, den die Musik in Form eines kurzen morbiden Tanzes zu zelebrieren scheint. Bei Ertönen der zwölf Schläge der Mittagsglocke (10:11-10:22) ist der Spuk vorbei: die Hexe verschwindet und der schöne Tag geht fort. Doch das Kind liegt in seinen letzten Atemzügen. Man kann dies an dem Klagegesang der Oboe, welche das Kind symbolisiert, ab Minute 11:00 entnehmen. Die himmlischen Sphärenklänge ab Minute 11:55 symbolisieren wohl das Entschlafen des Kindes zu dieser Mittagsstunde. Diese Klänge nehmen jedoch eine schnelle Wende und gehen wenige Sekunden später nahtlos in das dämonische Leitmotiv der Hexe über, die über den Kindstod höhnisch lacht und triumphiert.