Der Begriff der Legende ist eng
mit der literarischen Tradition verbunden und dringt in religiös-verklärte
Gefilde vor. Man könnte ihn als „das Vorzulesende“ übersetzen, womit der
erzählende Gestus von Glaubenswahrheiten oder Heilswirken angedeutet ist. Wenn
nun ein Komponist einen Satzteil „Im Legendenton“ überschreibt, so hat dessen
Musik ebenso etwas zu erzählen, meist auf mystisch-verklärte Weise. Dies ist
jedoch nicht im rein religiösen Sinne motiviert, sondern durch romantische
Inspiration, welche - wie früher die
Legenden – weitergetragen wird, bei
späteren Geistern Gehör findet und bei diesen in verwandelter Gestalt wieder in
Erscheinung tritt.
Robert Schumann (1810-1856),
Johannes Brahms (1833-1897) und Antonín Dvořák (1841-1904) waren geniale
Komponisten der Romantik, die eng miteinander verbunden waren. Der jeweils Ältere war der Mentor und Förderer des folgenden Jüngeren und entsprechend groß war auch dessen
Einfluss. Was nun die Legende betrifft, so kann man ein Thema orten,
das von Schumann erfunden wurde und in den Werken der anderen beiden Meister
eine wundersame Neuentfaltung, ja Metamorphose erleben durfte. Ob dies ein gewollter
Schaffensakt oder schlicht glückliche Inspiration war, sei dahingestellt. Es steht jedem
frei, sich aus dem Thema seine eigene Legende zu bilden:
Robert Schumann gilt als das
entfesselte romantische Genie schlechthin. Speziell sein frühes Klavierwerk
gilt vielen als Höhepunkt seines Schaffens. Aus diesem ragen besonders die drei
Fantasien op.17 aus dem Jahre 1836 als
einsamer Gipfel hervor. Sie gehören hinsichtlich ihrer musikalischen Substanz sowie
geistigen Spannkraft zum Genialsten, was Schumann geschaffen hat. Die freie
Behandlung der Sonatenhauptsatzform und die dreisätzige Anlage des Werkes sind
eine Verneigung vor Ludwig van Beethoven (1770-1827) und sollen seine
Errungenschaften auf dem Gebiet der Klaviersonate in der Romantik weiterführen. Auch
darüber hinaus finden sich viele thematische Bezüge zu Beethoven.
Doch nun zum Legendenton: Dieser
befindet sich im ersten Satz nach der wilden, leidenschaftlichen Exposition
anstelle einer Durchführung und dauert von Minute 4:44-8:07. Das einsetzende
Thema, das „im Legendenton“ vorzutragen ist, beginnt wie aus weiter Ferne eine
Geschichte aus vergangenen Zeiten zu erzählen. Es gehört zum Mystischsten, Majestätischsten
und Erhabensten, das je Schumanns Feder entsprungen ist. Was darauf folgt,
ist eine Legende an sich: Schumann variiert sein Thema und steigert es auf
immer progressivere Weise, sodass die scheinbar tiefe Versunkenheit zum Exzess
wird und an seinem Höhepunkt in einen unaufgelösten Vorhalteakkord mündet.
Dieser Akkord ist mit dem revolutionären „Tristan-Akkord“ von Richard Wagner
(1813-1883) ident, welcher allerdings erst 20 Jahre später während der Arbeit an entsprechender Oper enstehen sollte. Schumann gelingt hier also „im Legendenton“ eine seiner
kühnsten Eingebungen und gleichzeitig sein visionärstes Meisterwerk.
Das eigentliche Thema (also die „Legende“
an sich) wird von Minute 4:44-5:10 vorgestellt. Und es ist gerade seine Schlusswendung
von Minute 5:01-5:10, welche Schule machte und auch in späteren Zeiten (bis hin
zur Filmmusik) immer wieder aufgegriffen wurde, wenn von archaischen
Geschichten aus vergangenen, romantisierten Zeiten die Rede sein sollte.
Der erste große Komponist, der
Robert Schumanns Legendenton aufgriff, war dessen Schützling Johannes Brahms, der die Schlusswendung
in der Vertonung einer eigenen Legende im Jahre 1860 verwendete. Es handelt sich
um den mystischen „Gesang aus Fingal“, welcher wie Schumanns Fantasie die
Opusnummer 17 trägt und die düstere gälische Welt der Vorzeit heraufbeschwören
möchte. Dies gelingt Brahms mit den schwebend wirkenden Stimmen eines Frauenchors,
der von zwei Hörnern und einer Harfe begleitet wird. Das ohnehin schon mit fernen
Hornrufen und jenseitigem Gesang entrückt beginnende Werk gewinnt mit dem Einsetzen
der Harfe ab Minute 0:34 nochmal an mystischem Glanz und Ausdruck. Und genau ab
Minute 0:34 beginnt die verdeckte Anspielung an die Schlusswendung von Schumanns
Legendenton, welcher auch hier bis Minute 1:25 immer wieder bedeutungsvoll zu
tragen kommt.
So wurden „im Legendenton“ diese Meisterwerke zu eigenen Legenden wunderbarster Musik, welche bis heute nicht müde werden, uns ihre Geschichte zu erzählen. Wir, Bereicherte, können nur dankbar lauschen …
Antonín Dvořák, dessen Förderer
Johannes Brahms war, ließ ebenfalls den Legendenton in eine seiner
Kompositionen einfließen. In diesem Fall handelt es sich um das Hauptthema des Adagios
seines düsteren Klaviertrios in f-Moll op.65 aus dem Jahre 1883. Der Satz verharrt
in sehnsuchtsvoller Stimmung, die von bitter-süßen Melodien getragen wird und
einen Keim von Hoffnung in sich birgt. Es ist ein Satz voller Ausdruck, der
poetischer nicht sein könnte und durch seinen herzergfreifenden Klagegesang besticht. Voll von Zärtlichkeit nimmt er die Schlusswendung
von Schumanns Legendenton in sich auf und macht daraus etwas Eigenes: ein Werk
voller Zauber und Magie, dem sich kaum jemand entziehen kann.
So wurden „im Legendenton“ diese Meisterwerke zu eigenen Legenden wunderbarster Musik, welche bis heute nicht müde werden, uns ihre Geschichte zu erzählen. Wir, Bereicherte, können nur dankbar lauschen …