Das Spätwerk von Franz Schubert gehört zu den einsamen Gipfeln der Musikgeschichte. Je reifer sein Stil wurde, desto dichter scheint die Zahl an Meisterwerken, welche seiner Feder entsprungen. Bis kurz vor seinem Tod mit nur 31 Jahren war Schubert schöpferisch tätig und selbst seine letzte Symphonie, deren Fertigstellung ihm nicht mehr vergönnt war, trotzt erfolgreich ihrem Dasein als Fragment. Es handelt sich um Schuberts wahre "Unvollendete", die dennoch Vollendung in sich trägt.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Das wohl berühmteste Orchesterwerk des Frühromantikers Franz Schubert (1797-1828) ist ebenfalls eine Symphonie, welche als "Die Unvollendete" (D 759) Weltruhm erlangt hat. Von dieser vollendete Schubert im Jahre 1822 (also sechs Jahre vor seinem Tod) die ersten beiden Sätze, verlor jedoch darauf entweder das Interesse an einer Fertigstellung oder hielt das Werk bereits in diesem Stadium für abgeschlossen. Was auch immer die Gründe für den Abbruch der Arbeiten an dieser Symphonie waren, sie hatten sicherlich nichts mit Schuberts frühem Tod zu tun.
Dies verhält sich mit der hier besprochenen Symphonie vollkommen anders. Sie beschäftigte Schubert in den letzten Monaten seines Lebens vom Spätsommer bis zu seinem Tod im November des Jahres 1828. Es war wohl jenes Werk, dem Schubert seine letzten Gedanken widmete und dessen Skizzenblätter in der Nähe seines Sterbebettes aufgefunden wurden. Dabei handelte es sich um drei unfertige Sätze, die lediglich in Klavierfassung mit handschriftlichen Vermerken vorlagen. Immerhin haben diese bereits jenes Stadium erreicht, dass das Themenmaterial sowie die Grundstruktur der einzelnen Sätze hinreichend ersichtlich waren. Allerdings wurde diesen Skizzen die nächsten 150 Jahre keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, bis sich in den späten 1970er Jahren führende Schubertforscher dazu entschlossen, die Sätze vollständig zu rekonstruieren, im Stile Schuberts zu orchestrieren und so der Nachwelt zugänglich zu machen. Was dabei entstand (D 936A), gewährt nicht nur Einblicke in Schuberts Nachlass, sondern ist eines der schönsten, berührendsten, und persönlichsten Zeugnisse zu denen Musik fähig. Das Unausdrückbare wurde hier noch einmal überwunden und die Klänge geleiten uns in Bezirke, die dem Himmel etwas näher zu sein scheinen. Es handelt sich um Musik, die der scheidende Schubert bereits zu Ende gedacht hat, noch ehe er sie vollständig zu Blatt bringen konnte.
Dieser Musik möchten wir uns in den kommenden drei Artikeln widmen.
Erster Satz: Allegro maestoso, D-Dur
Für den ersten Satz konnte Schubert die Exposition, weite Teile der Durchführung und Skizzen zur Coda fertigstellen. Alles Weitere wurde von der Forschung behutsam rekonstruiert. Der Bruch ist kaum zu erkennen und der Satz offenbart sich in seiner Gesamtheit durch und durch als Schöpfung im Geiste Schuberts.
Der Beginn des Kopfsatzes und gleichzeitig das erste Thema ist ein unisono etwas unbeholfen wirkendes Fanfarenmotiv, das über die ersten 50 Takte viele tonale Wechsel erlebt und von Lage zu Lage (in der rekonstruierten Partitur von Instrumentengruppe zu Instrumentengruppe) weitergereicht wird.
Nach 62 Takten (ab 1:21) beginnt der sehr warme, kantable Seitensatz, der in seinem liedhaften Erscheinen das zweite Thema bildet. Es ist eine unbeschwerte Melodie, die bei Schuberts glücklichen Jugendwerken wie seiner 5. Symphonie (D 485) anzuschließen scheint und spielerisch verschiedenste Modulationen durchläuft. Diese ersten beiden Themen sind herrlich inspirierter Schubert, wären jedoch für sich alleinstehend nicht überlebensfähig gewesen, hätte Schubert nicht noch einen krönenden Abschluss der Exposition in Form eines dritten Themas angedacht.
Die Überleitung (ab 2:32) gestaltet sich in aufbrausendem Moll. Doch anstatt in dieser Geste zu verweilen, dringt rasch wieder lichtes Dur durch, sodass triumphal und erhaben das dritte Thema der Exposition (ab 2:35) in Erscheinung tritt. Dieses erstrahlt als majestätischer Hymnus, der sich zwar rhythmisch aus dem Fanfaren-Thema ableitet, in seinem Glanz und seiner Würde aber in ganz neue, höhere Sphären vorstößt und die vorherigen Themen nur als dessen Vorarbeit wirken lässt. Schubert gelingt hier in wenigen Takten der Griff nach den Sternen. Im kleinsten Raum entsteht ein Kosmos der vom Lichte einer glänzenden musikalischen Eingebung durchdrungen wird, welche weit über das eigentliche Thema hinausreicht. Nach einer heroisch gesteigerten Variation dieses Abschnittes (ab 2:55) endet in strahlendem, erhabenem Gestus gediegen und kraftvoll eine von Schuberts großartigsten Expositionen.
Umso erschütternder ist die Durchführung (ab 3:25), welche Schubert folgen lässt. Sie gestaltet sich nicht nur unkonventionell, sondern auch beängstigend weltabgewandt. Das Allegro maestoso erstarrt plötzlich zum Andante und düsteres b-Moll macht sich breit. Alles erscheint ganz im Zeichen der Trauer und Resignation. Der Kontrast zur Exposition könnte nicht größer sein: Ein vierstimmiger, jenseitiger Posaunensatz hebt mit klagendem Tonfall und schreitender Rhythmik an, als wolle er an das Todesmotiv von Schuberts Meisterwerk „Der Tod und das Mädchen“ erinnern. Der Komponist kehrt die Motive der zuvor so lebendigen Exposition plötzlich in dunkle Grabesmusik um, als dienen sie einem symphonisches „Memento mori“. Kurze Dur-Aufhellungen (ab 3:47) in der düsteren Moll-Atmosphäre bewirken zwar klärende Lichtblicke, jedoch keinen dauerhaften Trost, da die Trauer schnell wieder übermächtig wird. Selbst die wunderschöne Kantilene (ab 3:59), die von einzelnen Stimmen vorgetragen wird, verstärkt nur das Gefühl weltentrückter Einsamkeit eines der Welt Abhandengekommenen. Es folgen (ab 4:18) nur noch aufschreckende Dissonanzen eines ohnmächtigen Aufbegehrens, das kein Gehör mehr findet und sich im Dunkel verliert. Nur wir sind Zeuge dieses tragischen Vorgangs.
Hier endet Schuberts durchgehende Niederschrift dieses Satzes. Der weitere Verlauf (ab 4:48) wurde von den Musikforschern zu einer vollständigen Sonatenhauptsatzform rekonstruiert: Die Reprise entspricht der tonal transponierten Exposition und die Coda bedient sich dramatisch wirkungsvoll nochmal der Moll-Episoden der Durchführung bevor sie mit peitschenden Presto-Läufen (ab 8:21), welche auf losen Skizzenblättern in Schuberts Nachlass aufgefunden wurden, ihr Ende findet.
So wurde dieser Satz als symphonische Rekonstruktion der Nachwelt zugänglich gemacht. Und dennoch drängt sich (bei aller Dankbarkeit gegenüber der Forschung) folgender Gedanke auf:
Würde dieser Satz an jener Stelle abrupt enden, an welcher Schubert seine Feder für immer niederlegen musste, der dramatische Effekt wäre nicht mehr zu steigern gewesen. Die Tragödie von Schuberts frühen Tod hätte hier wohl ihre drastischste Illustration gefunden: Der Satz breche kurz nach der eigenen Grabesmusik ab. Die Musik verliere sich nach dem letzten Aufbegehren im Dunkel, um fortan für immer zu verstummen.
Würde dieser Satz an jener Stelle abrupt enden, an welcher Schubert seine Feder für immer niederlegen musste, der dramatische Effekt wäre nicht mehr zu steigern gewesen. Die Tragödie von Schuberts frühen Tod hätte hier wohl ihre drastischste Illustration gefunden: Der Satz breche kurz nach der eigenen Grabesmusik ab. Die Musik verliere sich nach dem letzten Aufbegehren im Dunkel, um fortan für immer zu verstummen.