Würde man für den Komponisten Arnold Schönberg (1874-1951) einen Beinamen suchen, so wäre ‚Der Unüberschätzte‘ keine schlechte Wahl. Der Grund hierfür ist nicht nur, dass sein bahnbrechendes Werk kaum Einzug in die Konzertsäle gehalten hat, sondern der Name ‚Schönberg‘ oft mit Dissonanzen und unzugänglicher Komplexität verbunden wird. Die Reserviertheit des Publikums ist interessant, da Schönberg sich zeitlebens als logische Fortführung der musikgeschichtlichen Entwicklung empfunden und sich der Tradition verpflichtet gefühlt hat. Unabhängig davon ist das Frühwerk Schönbergs zur Gänze der Spätromantik verschrieben und schenkt dieser auslaufenden Epoche letzte abschließende Meisterwerke, bevor ein neuer Weg gefunden und selbstbewusst beschritten wurde.
Diesen Weg gilt es nun nachzuzeichnen, um das Verständnis für einen der größten Komponisten der Musikgeschichte zu erhöhen und bestehende Vorurteile abzubauen. Dies soll in drei Artikel geschehen, welche sich je einer Schaffensphase widmen, in die Schönbergs Werk grob gegliedert werden kann: der Spätromantik, der freien Atonalität und letztlich der Zwölftontechnik. Wir beginnen die Reise bei seinem Frühwerk, das sich nahtlos an eine zu Ende gehenden Epoche voll großer Namen angliedern lässt.
Den Anfang soll ein Notturno für Streicher aus dem Jahr 1896 machen, das Schönberg noch ganz in romantischer Tradition eines Franz Schuberts (1797-1828) oder eines Johannes Brahms‘ (1833-1897) komponiert hat. Würde man nicht wissen, dass es sich hierbei um Schönberg handelt, man hätte ihm einen solch lyrisches, eingängiges Melos wohl nicht zugetraut.
Eines der ersten größeren Werke war das Streichquartett in D-Dur, das 1898 uraufgeführt wurde und die überlieferte Sonatenform mustergültig einhielt. Von der Tonsprache her ist es sehr stark von Anton Dvorák (1841-1904) und wiederum Brahms beeinflusst. Während Schönberg Dvoráks Einfluss schnell ablegen wird, wird ihn das Gestaltungskonzept des Zweiteren sein gesamtes Leben lang beschäftigen. Brahms‘ Werk und seine Weise zu komponieren sollten für Schönberg etwas darstellen, an dem es sich in allen seinen Schaffensphasen zu messen galt.
Das nächste bedeutende Werk war das 1899 entstandene Streichsextett „Verklärte Nacht“ op.4, das wohl zu den populärsten Kompositionen Schönbergs zählt und auch heutzutage immer wieder im Konzertbetrieb anzutreffen ist. Hier tritt neben dem Einfluss Brahms‘ jener Richard Wagners (1813-1883) hinzu. Bei „Verklärte Nacht“ handelt es sich um Programmmusik in Form einer symphonischen Dichtung, welche auf ein Kammerensemble übertragen wurde und dabei Leitmotivik sowie Harmonik eines Wagners mit der entwickelten Variation eines Brahms‘ verbindet. Schönberg selbst erkannte in diesem Werk bereits seine ausgeprägte eigene Tonsprache und findet moderne, zukunftsgewandte Anklänge „in der Ausdehnung der Melodien oder in den kontrapunktischen und motivischen Entwicklungen und in der quasi-kontrapunktischen Bewegung der Harmonie und ihrer Bässe gegen die Melodie. Schließlich finden sich sogar Stellen (z.B. Takt 137-139) einer unbestimmbaren Tonalität, die zweifellos als Hinweis auf die Zukunft gelten können. Das Streichsextett unterscheidet sich aber noch dadurch von den anderen Werken dieser Art, dass darin keine Handlung und kein Drama, sondern die dichterische Natur und menschliche Empfindungen dargestellt werden.“ Das Werk basiert auf einem Gedicht von Richard Dehmel (1863-1920), in welchem während eines Spaziergangs im Mondschein eine Frau ihrem Gefährten offenbart, dass sie ein Kind erwartet, das allerdings nicht von ihm ist. Der Mann wird es aber dennoch als das Seinige annehmen. Das 5-strophige Gedicht findet im 5-teiligen Aufbau der Komposition seine programmatische Entsprechung. Eingeleitet wird das Werk mit einer Anspielung auf den Beginn der Sturmszene des ersten Aktes von Wagners „Die Walküre“, in dem eine der größten Liebesgeschichten der Operngeschichte ihren Anfang nehmen soll.
Die wohl monumentalste Komposition in Schönbergs Frühwerk stellen seine „Gurre-Lieder“ für Soli, Chor und großes Orchester dar, welche zum Großteil 1901 vollendet waren. Dabei handelt es sich um ein weltliches Oratorium, das bei seiner Uraufführung zu Schönbergs zeitlebens größten Erfolg führen sollte. Das reiche Klangbild des Werkes fasst noch einmal alle zur Verfügung stehenden Mittel des spätromantischen Ausdrucks zusammen und bildet dabei einen letzten Höhepunkt in der Monumentalästhetik der Epoche nach Wagner. Es soll eines der letzten Werke sein, in dem Schönberg die romantische Form und Tonsprache zur Gänze erfüllt, ohne aus ihr ausbrechen zu wollen. Das ausgeprägte Traditionsbewusstsein vermittelt schon das orchestrale Vorspiel, das voll wunderschöner Klangpoesie eine Sonnenuntergangsstimmung darstellt und gleichzeitig an Wotans Abschied in Form des Feuerzauber aus dem letzten Akt von Wagners „Die Walküre“ erinnert.
Was die Handlung betrifft, welche um die Mitte des 14. Jahrhunderts spielt, so geht es um die Liebe des dänischen Königs Waldemar zur schönen Tove, welche von Waldemars Gemahlin Helvig ermordet werden lässt. Waldemars Schmerz hierüber entlädt sich im zweiten Teil des Oratoriums, welcher mit dem Todesakkord Toves beginnt. Die sich darauf entspinnende Klage des Dänenkönigs richtet sich direkt an Gott und ist erfüllt von großem Ausdruck voll von trotziger Auflehnung. Schönberg beweist hier, dass die Kraft seiner Musiksprache auch souverän das Genre des großen spätromantischen Musikdramas bedienen konnte.
Doch es war Schönbergs Sache nicht, ein talentierter Wagner Epigone zu werden. Immer drängender wurde sein Empfinden, dass er der Epoche, welche auf den Schultern eines Wagners und Brahms‘ ruht, nicht mehr derart viele neue Impulse zu geben vermag, wie sein Bestreben war. Die spätromantische Musiksprache war seiner Meinung nach nahezu ausgereizt. Das führte dazu, dass auf der Suche neuer Ausdrücke, seine romantisch geprägten Werke immer verworrener und komplexer wurden. Dies lässt sich sowohl in der symphonischen Dichtung „Pelleas und Melisande“ op.5, welche gigantische Ausmaße und ein hochkomplexes Geflecht aus Leitmotiven besitzt, als auch in dem Streichquartett op.7 in d-Moll beobachten. Vor allem das uferlose, anspruchsvolle Streichquartett aus den Jahren 1904/05 sprengt alle Grenzen und überforderte das Hörvermögen des zeitgenössischen Publikums heillos. Vorläufer für das einsätzige, mehr als 40-minütige Werk, das in der übergeordneten Struktur die Sonatenhauptsatzform auf etwas freie Weise noch gerecht wird, könnten in Schuberts poesievoller Fantasie in f-Moll D940 oder in Franz Liszts (1811-1886) gewaltiger h-Moll Sonate gefunden werden, doch in der inneren Struktur gelingt Schönberg hier ein progressives Meisterwerk, das seinen späteren expressiven Stil auf hochkomplexe, verschlungene Weise im Deckmantel der Spätromantik bereits vorwegnimmt.
Gustav Mahler (1860-1911), selbst Schöpfer formsprengender Werke und Wegbereiter der Moderne, soll in Anbetracht dieses Streichquartetts zu folgender Aussage verleitet worden sein: „Ich habe die schwierigsten Wagner-Partituren dirigiert; ich habe selber komplizierte Musik in Partituren von dreißig und mehr Liniensystemen geschrieben: und hier ist eine Partitur mit nur vier Systemen, und ich kann sie nicht lesen".
Anton Webern (1883-1945), Schüler und enger Vertrauter Schönbergs, erkannte das bahnbrechende der inneren Struktur des Werkes: „Wie die Bewusstheit seines Formgefühls erfährt auch die Kunst seiner Thematik in op.7 eine immense Steigerung. Wunderbar ist, wie Schönberg aus einem Motivteilchen eine Begleitfigur bildet, wie er die Themen einführt, wie er die Verbindungen der einzelnen Hauptteile gestaltet. Und alles thematisch! Es gibt sozusagen keine Note in diesem Werk, die nicht thematisch wird. Diese Tatsache ist beispiellos. Am ehesten besteht da noch ein Zusammenhang mit Johannes Brahms".
Mit diesem Streichquartett gelang Schönberg ein letztes Meisterwerk das noch auf romantischem Boden gediehen war. Doch seine unbändige, rastlose Suche nach neuen Ausdrucksmittel stieß die Tore zur Moderne weit auf. Schönberg sollte schon bald in Sphären vordringen, die völliges Neuland waren.
Ein Schlüsselwerk zu diesen neuen Sphären war bereits das nächste Streichquartett op.10 aus den Jahren 1907/08. Es stellt auch gleichzeitig den Übergang zu Schönbergs zweiter Schaffensperiode dar. Im Finalsatz beschreitet Schönberg zum ersten Mal gänzlich neue Bahnen und wendet sich von der romantischen Tradition endgültig ab, indem er den tonalen Rahmen verlässt. Bezeichnenderweise fügt Schönberg dem Streichquartett eine Sopranstimme hinzu, welche das Gedicht „Entrückung“ von Stefan George (1868-1933) intoniert, welches mit den bedeutungsschweren Worten beginnt: „Ich fühle Luft von anderem Planeten.“ Für Schönberg bedeutete die Einleitung des Satzes in der Tat „Loslösung von der Erdanziehung – das Emporschweben durch Wolken in immer dünnere Luft, das Vergessen aller Mühsal des Erdenlebens“.
Die Abkoppelung von der verworrenen, immer komplexer werdenden Sprache der Spätromantik war nun vollzogen. Was nun folgte, war eine Suche nach neuem Ausdruck und neuer Einfachheit im tonal ungebundenen Raum. Die Ergebnisse dieser Suche sollten den Verlauf der Musikgeschichte für immer verändern und eine neue Epoche einleiten.
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