Montag, 5. August 2019

"Monteverdi - Orpheus' Walking Bass"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Besonders radikales Neuland betrat Monteverdi in der Gestaltung des Aufstieges von Orpheus und Eurydike aus der Unterwelt. (Dieser sollte bekanntlich unter der Bedingung durchgeführt werden, dass Orpheus sich während des Aufstieges nie nach seiner Geliebten, die ihm stumm folgt, umdrehen dürfe, da dies ansonsten den endgültigen Verlust Eurydikes zur Folge hätte.) Bei dieser Szene gelang Monteverdi ein musikdramatischer Geniestreich, den es zuvor noch nicht gegeben hatte: Es handelt sich um eine Bassbewegung, die beschreibt, was der Zuhörer mit seinem geistigen Auge sehen soll. Es soll der Gang aus der Unterwelt als Schreiten hörbar dargestellt werden. Die Musik wird also zum Handlungsträger und illustriert das auf der Bühne Geschehende. Das war ein revolutionäres, bislang einzigartiges Unterfangen in der Musikgeschichte: Musik, der Klang des Basses, wurde essenzieller Teil der Inszenierung. Diese fortschreitende Geste kann als „gehender Bass“ gedeutet werden, der von Minute 0:00 bis 1:19 der Hörprobe den gut gelaunten Orpheus auf seinem Weg aus der Unterwelt begleitet:



Doch erst im Jazz des 20. Jahrhunderts soll dieser Kunstgriff als „Walking Bass“ zum geflügelten Wort für eine rhythmisch gleichmäßige und trotzdem abwechslungsreiche Basslinie werden, welche den Beat wiedergibt und die Harmoniefolge verdeutlicht:




Doch auch in französische Chansons hielt dieser Bass Einzug, wie das nächste Hörbeispiel beweist, wo der gezähmte Schritt (bzw. Trab) eines Pferdes („Le cheval“) vom Bass wiedergegeben wird. (Das Pferd gilt in diesem Lied als Symbol für einen Mann, der in keiner so erfüllenden Beziehung wie Orpheus mit Eurydike lebt und eher unter einer weiblichen Dominanz leidet.)





Selbst in höchster Populärkultur fand der „Walking Bass“ Anwendung: 




Zurück zum antiken Vorbild unserer Oper: Leider soll Orpheus‘ „Walking Bass“ kein glückliches Ende haben. Ab Minute 1:19 der ersten Hörprobe wird Orpheus nervös und fragt sich, ob Eurydike sich denn tatsächlich hinter ihm befindet oder ob der Gott der Unterwelt nur ein böses Spiel mit ihm treibt. Als er schließlich ein Geräusch vernimmt, dreht er sich um und erblickt tatsächlich das Antlitz seiner Geliebten. Diese Begegnung wird von einer Orgel, Symbol des Todes und Jenseits, durch lang anhaltende Töne untermalt. Genau dieser Moment symbolisiert das Erkennen, dass Orpheus Eurydike endgültig verloren hat. Der Wechsel der musikalischen Besetzung verdeutlicht dies auf unüberbietbar theaterwirksame Weise. Die Orgel signalisiert: Eurydike ist längst wieder dem Totenreich anheimgefallen, diesmal für immer. Und entsprechend werden die letzten, mitleidvollen Worte der zuvor Stillen jenseitig begleitet:






So endet die Geschichte der zwei Liebenden, deren Schicksal uns durch Monteverdis Musikdrama auch heute noch tief bewegen kann und zeitlos scheint. Doch mag Orpheus seine Begleitung (Eurydike) auch verloren haben, eine andere Art von Begleitung („Walking Bass“) schreitet heute noch - Jahrhunderte später - durch die Musikgeschichte munter fort …









Freitag, 2. August 2019

"Monteverdi - Orpheus in der Unterwelt"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Gerade die dramatisch motivierte Instrumentation findet in „L’Orfeo“ besonders eindrucksvolle Umsetzung: So werden verschiedene Instrumente der Ober- wie der Unterwelt (also dem Leben wie dem Tode) zugeordnet. Während im Diesseits helle Klänge von Streicher, Blockflöten, Lauten und einem Cembalo dominieren, kommen im Jenseits tiefe, abgründige Instrumente wie Posaunen, Zinken oder sogar ein schnarrendes Regal (eine historische Kleinorgel mit Zungenpfeifen) zum Einsatz. Auch die Chöre sind unterschiedlich besetzt. Das Leben begleitet ein gemischter Chor, der Chor der Unterwelt besteht ausschließlich aus tiefen Männerstimmen. Der Handlungsverlauf wird also durch die unterschiedlichen Besetzungen mit ihren verschiedenen Klangcharakteren veranschaulicht und intensiviert.

Sinnbild des Lebens und der Oberwelt ist das einleitende „Ritornell“. Dieses beschreibt die irdische Sphäre, in welcher der Sänger Orpheus die Nymphe Eurydike für sich gewinnen konnte und damit sein Glück fand. Es ist in allen Akten, welche in der Oberwelt spielen, präsent und kann als „Leitmotiv“ verstanden werden.







Die Handlung selbst basiert auf dem berühmten antiken Mythos und gestaltet sich für die Oper auf folgende Weise: Anfangs besingt Orpheus in dieser dem Leben zugewandten Oberwelt sein Glück und erinnert sich an schmerzliche Tage der Vergangenheit, die durch die Liebe zu Eurydike überwunden wurden. Begleitet wird Orpheus‘ mitreißender Gesang, der eine der ersten Arien der Musikgeschichte darstellt, vom irdischen Instrumentarium, das bereits im einleitenden „Ritornell“ erklungen ist.







Doch sein Glück soll nicht von Dauer sein. Eine Botin eilt zu Orpheus und überbringt ihm die tragische Nachricht vom Tod Eurydikes, die in einer Blumenwiese von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Die Musik wandelt sich plötzlich, erhält eine dunkle Note und beginnt Trauer zu tragen. Eine Orgel, die den Tod und tiefes Leid symbolisiert, bricht in die helle Welt des Lebens ein und untermalt die Verkündigung des Unglücks. Die Szene, in der Orpheus die tragische Botschaft erhält, wird nicht als Arie gestaltet, sondern als tragendes Rezitativ, das die Worte gut vernehmbar für sich sprechen lässt und in der Reduktion der musikalischen Mittel, die Tragweite der Tragödie für das Publikum begreiflich macht. Nur die Orgel steuert der Welt des Lebens die Gewissheit bei, dass es so etwas wie Vergänglichkeit und ewigen Verlust gibt. Als raffiniertes Stilmittel lässt Monteverdi die Botin und Orpheus in unterschiedlichen Tonarten miteinander interagieren, was einen zusätzlichen dramaturgisch brisanten Effekt erzeugt. Der Mitteilung des Todes Eurydike (in Minute 0:50) folgt Orpheus Seufzer mit einer anschließenden Pause, welche das Verstummen des größten Sänger und somit seine tiefste Erschütterung stillen Ausdruck verleiht. Hier endet also die klangliche Dimension der Musik unter gleichzeitiger Maximierung der theatralischen Wirkung. Erst danach folgt der Bericht der Boten über den Hergang des Todes der Geliebten, der in der wörtlichen Wiedergabe die letzten Worte Eurydikes gipfelt und zugleich den höchsten Ton des erschütternden Berichtes bildet: „Orfeo, Orfeo!“ (in Minute 2:57).







Orpheus will sich mit diesem Verlust aber nicht abfinden und beschließt, in die Unterwelt hinabzusteigen, um Eurydike wieder zu sich ins Leben zurückzuholen. Bis zu den Pforten der Unterwelt wird Orpheus von der personifizierten Hoffnung ("La Speranza") begleitet, welche mit „La Musica“ aus dem Prolog der Oper ident ist. Allerdings verweigert sie, ab dieser Schwelle ihr Geleit und verlässt Orpheus.

Weshalb? 

Um diese Frage zu beantworten, muss man die hohe Weltliteratur befragen. Nach der „Commedia“ von Dante Alighieri (1265-1321) steht über dem Portal zum „Inferno“ geschrieben: 

 Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate.
Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.”

Somit kann die Figur der Hoffnung (it. speranza) als Ehrerbietung Dante und dessen Epos gegenüber verstanden werden. Dass Monteverdi die personifizierte Hoffnung mit der Musik in Verbindung bringt, könnte als Bestreben verstanden werden, mit seiner neuartigen Kunst auch einen Platz im Dichterolymp zu finden. Jedenfalls reichen sich hier zwei Meister, die eine Kunstepoche zu Ende geführt und eine neue begonnen haben, sich hier über Jahrhunderte hinweg die Hände.

Die Hoffnung wusste, wohl, weshalb sie nicht mit in die Unterwelt hinabsteigen wollte. Die Szenerie wird plötzlich eine völlig andere und mir ihr auch die Musik. Nicht mehr der helle Klang des „Ritornells“ der Oberwelt ist hier die prägende Kraft, sondern der dunkle Klang jenseitiger Posaunen. So gestaltet sich das „Leitmotiv der Unterwelt“ als starker Kontrast zum Klang des Lebens an der Erdoberfläche.







Und auch die Bewohner der Unterwelt klingen anders. So trifft Orpheus bei seinem Abstieg Charon, welcher als Fährmann die Verstorbenen in das Reich der Toten befördert und mit seiner tiefen Bassstimme nur von einem schnarrenden Regal begleitet wird, das reibungsvolle Dissonanzen von sich gibt. Charon erklärt Orpheus auf sehr eindringliche Art, dass Lebende keinen Zutritt in die Unterwelt haben, und will ihn abweisen. Dabei lotet er die tiefsten Gründe des musikalisch Machbaren aus:







Orpheus überwindet jedoch Charon durch einen Trick und gelangt in die Unterwelt, wo er den dort herrschenden Pluto durch Vermittlung von dessen Frau Persephone, welche zutiefst mit Orpheus und Eurydike mitleidet und von seinem Gesang ergriffen ist, überzeugt wird, dem liebenden Sänger die Chance zu geben, Eurydike aus der Unterwelt zu führen. Die einzige Bedingung Plutos ist: Orpheus darf sich während des Aufstieges aus der Unterwelt nie zu Eurydike, welche ihm still und leise folgen wird, umdrehen. Voll Glück nimmt Orpheus die Gelegenheit wahr und beginnt freudvoll seinen Gang ins Leben zurück.

Wie Monteverdi das Folgende musikalisch in Szene setzt, hat es zuvor nicht gegeben. Es gelingt ihm ein Kunstgriff, der für die künftige Musik stilbildend sein wird und selbst begleitende Figuren des Jazz Jahrhunderte vorwegnehmen soll. Doch unabhängig davon gelingt Monteverdi hier die Gestaltung einer der ergreifendsten Szenen, welche jemals für die Bühne geschaffen wurden …