Vor 50 Jahren sandte John Lennon den von der Queen verliehenen Ritterorden aus Protest gegen die britische Außenpolitik zurück. Ein Tabubruch! Doch der eigentliche Tabubruch befand sich bereits in den britischen Charts: Lennons erste Solo-Single nach Trennung der Beatles.
Der Herbst 1969 bedeutete im Leben von John Lennon (1940-1980) einen Wendepunkt: Er teilte im September den Beatles mit, diese zu verlassen, veröffentlichte im Oktober eine Solo-Single über Heroinentzug, und hob im November seinen politischen Aktivismus in neue Dimensionen. Die Trennung von jener Band, mit der er in den 60ern eine beispiellose Karriere gemacht hatte, führte zu einem kreativen Ausbruch in seinem Schaffen und politischen Engagement, der seinen weiteren Lebensweg genauso wie sein musikalisches Erbe nachhaltig prägen soll.
Der politische Aktivismus im November und die Single-Veröffentlichung im Oktober sind voneinander nicht zu trennen, da sie zum einen gesellschaftspolitische Tabus auf unterschiedlichen Ebenen brachen und zum anderen John Lennon selbst beide Ereignisse miteinander verschränkte. Am 26. November schickte er den von der Queen 1965 an alle Beatles verliehenen Ritterorden fünfter Stufe („Member of the British Empire“, MBE) zurück. Begleitet wurde dies von zwei identen Schreiben an den Buckingham Palace sowie den britischen Premierminister in der Downing Street 10. Lennon führte hierbei drei Gründe für die Rückgabe an, zwei davon außenpolitischer Natur: Ihm missfiel sowohl die Beteiligung Großbritanniens am Bürgerkrieg in Nigeria, einem ehemaligen Kolonialgebiet des Empires, als auch die passive Haltung gegenüber dem eskalierenden Vietnamkrieg der USA. Diese pazifistische Einstellung Lennons verwunderte nicht weiter, hatte er doch bereits wenige Monate zuvor mit friedlichen Protesten vom Bett aus (den „Bed-Ins for Peace“ mit seiner Ehefrau Yoko Ono) sowie der Aufnahme der Anti-Kriegs-Hymne „Give Peace a Chance“ (bezeichnenderweise im „Queen Elizabeth Hotel“ in Montreal) international für Aufregung gesorgt.
Der dritte Grund für die Rückgabe des Ordens war jedoch persönlich und kokett: Es war das Abrutschen seiner im Oktober veröffentlichten Solo-Single in den britischen Charts. Es handelte sich um den Song „Cold Turkey“. Dieser Song ist sowohl inhaltlich wie musikalisch ein Meilenstein. Inhaltlich verarbeitet Lennon ein heikles Thema, das bei den Beatles nicht derart offensiv behandelt hätte werden können: seinen „kalten Entzug“ (so die freie Übersetzung des Titels) von Heroin und die damit verbundenen Qualen. Er beschreibt hierbei mit hoher Intensität und medizinischer Genauigkeit die physischen wie psychischen Begleiterscheinungen, die mit dem Drogenentzug einhergehen. Symptome wie Fieber, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche, Schüttelfrost und äußerste Nervenreizung werden in stark rhythmisierte Musik gegossen, die dem Hardrock mit psychedelischen Einflüssen zugeordnet werden kann. Das verstörend aggressive Gitarrenspiel, der pulsierende Bass, das Herzschlag simulierende Schlagzeug sowie Lennons expressiver Gesang, der zum Ende hin im qualvollen Crescendo in psychotisch ekstatischen Schmerzensschreie endet, während immer neu hinzukommende verzerrte Gitarrenspuren die auftretenden Wahnvorstellungen imitieren, führen dem Publikum das nackte Leid eines im Entzug befindlichen Drogenabhängigen unmittelbar vor Augen.
Die schonungslose Thematisierung von Drogenproblemen eines führenden Musikers seiner Zeit war ein radikaler Schritt und führte zum Boykott des Songs von zahlreichen Radiosendern. (Kalmierende Interpretationsversuche, dass Lennon lediglich eine Lebensmittelvergiftung nach dem Verzehr eines „kalten Truthahns“ beschreibe, waren wenig überzeugend.) Dieser kompromisslose Realismus wäre bei den Beatles nicht möglich gewesen, obgleich Drogenkonsum sehr wohl Einfluss auf ihr Schaffen hatte. Doch dieser kam immer nur indirekt, chiffriert und etwas verbrämt zum Ausdruck. So war dies bereits im Lennon-Song „Tomorrow Never Knows“ des richtungsweisenden Beatles-Albums „Revolver“ aus dem Jahre 1966 der Fall. Hier verarbeitete Lennon inhaltlich die Lektüre des Buches „The Psychedelic Experience“ des umstrittenen amerikanischen Psychologen Timothy Leary, der durch seine Forderung nach Liberalisierung von LSD zu therapeutischen Zwecken zum Idol der Hippie-Bewegung wurde. Lennon bezog sich textlich stark auf Learys Buch, welches wiederum vom „Bardo Thödröl“ („Tibetisches Totenbuch“) und von Transzendentalphilosophie im Allgemeinen beeinflusst wurde. So können Passagen des Liedes schon fast wie eine Gebrauchsanweisung zu einer psychedelischen Erfahrung verstanden werden: „Turn off your mind, relax and float downstream, it is not dying“ oder „Lay down your thoughts and surrender to the void, it is shining“. Musikalisch gab Lennon dem Produzenten (entsprechend Learys tibetischer Quelle) die Anweisung, dass ihm ein ätherischer Sound vorschwebe, als sänge der Dalai Lama von Berggipfel im Himalaja. Dies wurde bewerkstelligt, indem Lennons Stimme mit Hall versehen und durch Flanging-Effekte verzerrt wurde. Der Gesang wurde durch Bass- und Schlagzeugloops sowie rückwärts laufende Tonbandschleifen begleitet, sodass eine entrückte Atmosphäre entstand, als spräche ein Mystiker in Trance zu seinen Anhängern.
Doch „Tomorrow Never Knows“ war bei Weitem nicht der einzige Beatles-Song, der mögliche Drogenbezüge aufwies. Auch anderen Beiträgen (speziell von John Lennon) wie das kalaidoskopartige „Lucy in the Sky with Diamonds“ (1967), das psychedelisch entrückte „I Am the Walrus“ (1967) oder das vielschichtige „Happiness Is a Warm Gun“ (1968, mit der Zeile „I need a fix ´cause I‘m going down“) wurden immer wieder Anspielungen auf Drogenkonsum nachgesagt (was vom Komponisten zu dieser Zeit vehement bestritten wurde).
Dieses Verstellspiel war nach der Loslösung von den Beatles vorbei. Lennon brauchte nun auf kein Bandimage mehr Rücksicht nehmen und konnte kompromisslos sein inneres Empfinden und seine persönlichen Ansichten nach außen tragen. In dieser Hinsicht war „Cold Turkey“ im Oktober 1969 eine Art „Coming-out“, ein Befreiungsschlag eines Künstlers zu neuer Sachlichkeit. Und diese verband er zeitgleich mit seinem politischen Engagement, da für ihn das eine das andere bedingte. Aus diesem Grunde wurde die Protestaktion im November (die Rückgabe des Ritterordens an die Queen) argumentativ mit seinem Bekenntniswerk „Cold Turkey“ verwoben. Seine Musik würde künftig von seinen Überzeugungen und Bekenntnissen nicht länger zu trennen sein. Der politische Mensch und der Künstler wurden eins. Und genau dieser neuen Linie sollte Lennon die nächsten Jahre treu bleiben. So schrieb er parallel zu seinem gesellschaftspolitischen Engagement gleichzeitig Musikgeschichte.
Die nächste politisch motivierte Aktion in Form einer Antikriegs-Kampagne folgte bereits im Dezember 1969, bei welcher John Lennon und Yoko Ono an städtischen Knotenpunkten rund um die Welt (wie dem Times Square in New York) ihre Weihnachtsbotschaft auf großen weißen Werbeflächen verkündeten: „WAR IS OVER! If you want it.“ Diesen Appell zum Weltfrieden, der sowohl an die Politik als auch an jeden einzelnen Menschen selbst gerichtet war, verwertete Lennon zwei Jahre späte in seinem bewegenden Protestlied „Happy Xmas (War is over)“ (1971), in welchem der Slogan von Kindern des „Harlem Community Choir“ intoniert wurde und so zur erhebenden, mehrstimmigen Gestaltung des Liedes beitrug.
In dieser Geisteshaltung, die an die Vorstellungskraft der Menschen für eine Zukunft ohne Krieg appelliert, entstand im gleichen Jahr wie „Happy Xmas (War is over)“ auch Lennons berühmtestes und meistgespieltes Solowerk „Imagine“, in welchem eine utopische Welt ohne Grenzen, Hass, Eigentum und Religion erträumt wurde.
Doch auch in anderen Liedern floss Lennons politisches Engagement ein. So zum Beispiel in seinem schonungslos gesellschaftskritischen Folk-Song „Working Class Hero“ (1970), seiner Solidarisierungshymne mit der Arbeiter- und Frauenbewegung „Power to the People“ (1971) oder dem bitter-sarkastischen, antibritischen Beitrag zum Nordirland-Konflikt „The Luck of the Irish“ (1972). All diese radikalen, hochpolitischen Werke wären als Mitglied der Beatles undenkbar gewesen. (Ein erster politischer Vorstoß bei den Beatles mit dem Lied „Revolution“ im Jahr 1968 war inhaltlich vergleichsweise harmlos.)
Doch auch musikalisch beschritt Lennon durch die Veröffentlichung von „Cold Turkey“ neue Wege, die Einfluss auf sein weiteres Werk hatten. Der finstere Ton, der pulsierend getriebene Bass und der abgründige Text fanden in Kompositionen wie „I found out“ (1970), in welchem er mit vermeintlichen Allheilmitteln wie Selbstliebe, Religion oder Drogen gnadenlos abrechnete, ihre Fortsetzung.
Auch im Song „Well Well Well“ (1970) ist ein Herzschlag simulierendes Schlagzeug neben einem sehr dominanten, verkrampft wirkenden Gitarrensound vertreten. Gerade die Behandlung des Gitarrenparts wurde oft als Vorwegnahme des Grunge, welcher erst 20 Jahre später durch „Nirvana“ rund um Kurt Cobain (1967-1994) die Weltbühne betreten sollte, gedeutet. Auch Lennons ekstatisch entfesseltes Schreien in der Mitte des Liedes gab dem Vergleich mit Cobains Stil Auftrieb.
Doch unabhängig der Nähe zum Grunge können sowohl „Could Turkey“, „I found out“ als auch „Well Well Well“ bereits als richtungsweisend für die Entwicklung des Punk Rock der 70er angesehen werden, da sie den Weg zum harten Sound von Bands wie den „Sex Pistols“ bahnten.
Auf diese Weise kann John Lennon nicht nur als großer Komponist von Bekenntniswerken und Protestliedern gesehen werden, sondern auch als Wegbereiter und Inspirationsquelle für nachfolgende Generationen. Er begann seine Solokarriere vor 50 Jahren mit zwei Tabubrüchen. Seine Musik war von seinen Überzeugungen fortan nicht mehr zu trennen. Vielleicht liegt gerade darin deren Kraft, die bis heute ungebrochen ist.