Die Pavane ist ein spanisch-italienischer Renaissancetanz des 16. Jahrhunderts, der wegen seiner einfachen Geradtaktigkeit und feierlichen Schreit-Rhythmik Verbreitung in ganz Europa fand. Sie vermag sowohl die Sphären des höfisch Zeremoniellen als auch des wehmütig Melancholischen einzufangen. Diese Ausdrucksvielfalt, welche äußerliche Repräsentation ebenso umfasst wie innige Wehklage, macht die Pavane zu einer Projektionsfläche, die das Vergangene im Licht der Gegenwart erscheinen und sich mit unserer Gefühlwelt zeitlos verbinden lässt.
Die Pavane wurde im Venedig des frühen 16. Jahrhunderts zum ersten Mal erwähnt. Joan Ambrosio Dalza (um 1510) hieß der Komponist und ist für die Musikgeschichte aus mehreren Gründen von Bedeutung: Zum einen war er der Erste, der Musikwerke hinterlassen hat, die originär für ein Instrument – zumeist Laute – geschaffen wurden, zum anderen etablierte er mit der Gattung der Pavane gleichzeitig auch die früheste überlieferte Variationsform. Seine „Pavana alla Venetiana“ sowie „Pavana alla Ferrarese“ zeugen von diesen musikhistorischen Meilensteinen auf eindrucksvolle Weise.
Die Pavane blieb nicht lange ein rein venezianisches Phänomen, sondern erhielt rasch Einzug in das Hofzeremoniell der europäischen Herrscherhäuser. Ein besonders schönes Beispiel ist die Pavane von Claude Gervaise (~1510 - ~1560), der vermutlich in der Kapelle des französischen Königs Franz I. (1494-1547) wirkte, und ein Werk von archaischer Erhabenheit schuf.
O melancholy,
Who ever yet could sound thy bottom, find
The ooze, to show what coast thy sluggish care
Might’st easil’est harbour in?
Oh Melancholie,
wer maß je deine Tiefe, fand den Boden,
zu raten, welche Küst' am leichtesten
der schwerbeladen Sorg' als Hafen dient?
Dieser bedeutungsschweren Frage versuchte nicht nur William Shakespeare (1564-1616) in seinem späten Meisterwerk „Cymbeline“ nachzugehen, sondern auch dessen Landsmänner in der Musik des elisabethanischen Zeitalters und darüber hinaus. Deren Schöpfungen – meist für kleine Ensembles derselben Gattung (Consorts) – erreichen einen Grad an Ausdruckstiefe und Schwermut, wie er davor nicht existierte. Sie wenden sich vom höfischen Repräsentationszeremoniell ab, nach innen hin, die eigenen Seelengründe auslotend. Es scheint kein Zufall zu sein, dass zur selben Zeit, in der Shakespeare auf der Bühne die inneren Konflikte und Leiden des modernen Menschen in all ihren Facetten zu durchleuchteten versuchte, die Musik in Sphären eines zeitlosen, ewig nachfühlbaren Weltschmerzes vorzudringen vermochte. Die Pavane war hierfür das Gefäß der Vermittlung, die Form, welche die Gefühlsschwere zu tragen hatte.
Ein großer Meister der damaligen Zeit war William Byrd (1543-1623). Eines seiner schönsten Werke ist die Pavane in c-Moll. Ihr Klang ist in sich gekehrt, von kristallener Klarheit. Ihre herbe Schönheit entspinnt sich über sanfte, wehmütige Wogen. In reduzierter Schmucklosigkeit beschränkt sie sich aufs Wesentliche, verleiht jedem Takt Bedeutung und Gewicht. Ein Leid wird geklagt, das in sich Trauer, aber auch Trost birgt. - Der Kommunikator der Hörprobe ist der Pianist Glenn Gould (1932-1982), der – in einem eigenen Arrangement fern jeder historisch-authentischen Praxis – die Intensität des Werkes eindringlich und würdig zu vermitteln weiß.
Dieser herrlichen Wiederbelebung folgten weitere Beiträge. Faurés Schüler, Maurice Ravel (1875-1937), ließ es sich nicht nehmen, 1899 ebenso eine Pavane mit dem Attribut „pour une infante défunte“ („für eine verstorbene Infantin“) zu komponieren. Die Namensgebung ist mehr als aufschlussreich, da sowohl ein zeitlicher als auch ein örtlicher Hinweis besteht: das Wort „défunte“ verweist auf etwas Vergangenes und „infante“ auf den spanischen Hof, auf eine Prinzessin. Somit verschreibt sich auch Ravels Werk ganz einer wehmütig nostalgischen Träumerei, die Vergangenes verklärend zu evozieren versucht. Entsprechend ist auch Ravels Äußerung zu verstehen, wie er seine Komposition beschrieben hat als „eine Erinnerung an eine Pavane, die eine kleine Prinzessin in alter Zeit am spanischen Hof getanzt haben könnte“. Es wurde eines seiner populärsten Werke und kann auch als richtungsweisend angesehen werden, da es langsam den spätromantischen Kosmos verlässt und bereits impressionistische Anklänge aufweist, die in späteren Kompositionen Ravels noch viel stärker zum Ausdruck kommen sollen.
Eine weitere Pavane hat Ravel für seinen späteren Klavierzyklus „Ma mère l’oye“ in den Jahren 1908- 1911 geschaffen. Auch diese trägt einen ausdrucksvollen Beinamen „Pavane de la belle au bois dormant“, also eine Pavane für die schlafende Schönheit, Dornröschen. Auch diese besitzt nostalgisch-verklärenden Charakter. Das Märchensujet beschwört Kindheitserinnerungen voll fragiler Schönheit, ein zerbrechlicher Traum, der bei der geringsten Störung enden kann, sodass die Schlafende erwachen muss.
Endet hiermit die Geschichte der Pavane? Mitnichten. Viele Elemente der eben gehörten Beispiele werden auch in der Popkultur immer wieder aufgegriffen und als eigene Erfindung ausgegeben, ohne dabei den bedeutenden Wurzeln gerecht zu werden. - In jüngerer Vergangenheit erwies sich aber ein großer zeitgenössischer Musiker der Pavane als würdig, der ganz bewusst diese Form wählte und nur durch seine akustische Gitarre – als wollte er auf die Ursprünge in der Lautenmusik verweisen – Klang werden ließ. Es handelt sich und die „Pavane for Jay A“, mit welcher der britische Gitarrist Eric Clapton (*1945) im Jahr 2014 einem verstorbenen Freund die letzte Ehre erwies. Diese Pavane enthält Anklänge von Claptons Ballade „Tears in heaven“, die er 1991 anlässlich des tragischen Todes seines Sohnes komponiert hatte. Doch Claptons Träne, seine Lachrimae, bedarf hier keiner Worte mehr. Um die Trauer zu transportieren reicht der ergreifende Klang der Gitarre und die würdige Form eines Renaissancetanzes, der zeitlos Gefühle auch heute noch auszudrücken vermag:
Ein anderer Meister, der in Form einer Pavane tiefste Gefühle auszudrücken vermochte, war John Dowland (1563-1626). Seine berühmteste ist das Lautenlied „Flow, my tears“, das mit dem Motiv einer fallenden Träne eingeleitet wird. Die Musik versteht eindringlich die rhetorischen Figuren des Textes zu tragen und in ihrer Wirkung zu verstärken, ja nahezu physisch fühlbar zu machen. Der Text findet in seiner Trostlosigkeit musikalische Entsprechung, die zeitloses Nachempfinden ermöglicht.
Flow, my tears, fall from your springs!
Exiled for ever, let me mourn;
Where night's black bird her sad infamy sings,
There let me live forlorn.
Es ist wohl der Popularität dieser Pavane geschuldet, dass Dowland selbst sie rein instrumental unter dem schlichten Titel „Lachrimae“ („Träne“) bearbeitete und dadurch deren Ausdruckskraft sowie poetische Idee noch unmittelbarer, noch eindringlicher spürbar macht.
Dass Dowland dieser Gefühlswelt an Schwermut und Tiefsinn auch selbst verhaftet war, lässt der Titel einer anderen berühmten Pavane aus seiner Feder vermuten. In dem Bekenntniswerk „Semper Dowland, semper Dolens“ zeigt der Schöpfer, dass auch er dem Schmerz leidvoll verbunden ist.
Nach diesem Höhepunkt im späten elisabethanischen Zeitalter wurde es ruhiger um die Pavane. Lediglich am Hof des französischen Sonnenkönigs, Ludwig XIV. (1638-1715), verstieg sich ein grübelnder Cembalist und älterer Vertreter des großen Komponistengeschlechts der Couperins, Louis Couperin (1626-1661), in die kühnen Sphären von fis-Moll und huldigte noch einmal auf würdevoll gravitätische Weise diesem aus der Mode gekommenen Renaissance-Tanz, als wäre es ein Abgesang auf eine vergangene Zeit.
Dann wurde es für mehr als 200 Jahre lang ruhig um die Pavane. Doch dies ist nicht das Ende der Geschichte! In eben dem Land, wo Louis Couperin einen Abgesang schuf, erfuhr die Pavane Ende des 19. Jahrhunderts wunderbare Wiederbelebung: Es war der französische Komponist Gabriele Fauré (1845-1924), der im Jahre 1887 sein wohl bekanntestes Werk, seine Pavane, als Reminiszenz auf den berühmten Renaissancetanz schuf. (Passenderweise und vermutlich nicht ganz zufällig steht sie in der schon von Couperin verwendeten Tonart fis-Moll.) Dieses spätromantische Meisterwerk ist ein nostalgischer Nachruf, auf eine vergangene Gattung einer vergangenen Zeit, der Fauré mit weit ausschwingender sanfter Schwermut neues Leben einhaucht. An die ursprüngliche Schreittanz-Rhythmik gemahnen die Pizzicato-Schläge der Streicher im Bass, über denen sich eine ergreifend elegische Melodie entspinnt, die - von verträumter Schwärmerei durchdrungen - die Eleganz der Belle Èpoque in verklärtem Licht heraufzubeschwören weiß.
Aufgrund ihrer Beliebtheit arrangierte Ravel diese Pavane später für großes Orchester.
Doch nicht nur in Form nostalgischer Neuschöpfungen wurde die Pavane in der Belle Èpoque wiederbelebt und ihrer gehuldigt. Auch historische Pavanen alter Meister wurden neuentdeckt und für romantisches Orchester arrangiert. Besondere Berühmtheit erlangte hierbei die wunderschöne Pavane in Form einer ergreifenden Liebeserklärung „Belle, qui tiens ma vie“ („Du Schöne, die mein Leben hält“) aus dem 16. Jahrhundert (0:00), die sowohl Léo Delibes 1882 (2:03) als auch später Peter Warlock 1928 (3:48) zur instrumentalen Bearbeitung inspirierte und so - ewig jung die Zeiten überdauernd - uns auch heute noch zu beflügeln vermag.