Donnerstag, 15. April 2021

"Arthur Schopenhauer - Nachtgedanken XII"



„Der Wille ist das Erste und Ursprüngliche, die Erkenntniß bloß hinzugekommen, zur Erscheinung des Willens, als ein Werkzeug derselben, gehörig. Jeder Mensch ist demnach Das, was er ist, durch seinen Willen, und sein Charakter ist ursprünglich; da Wollen die Basis seines Wesens ist. Durch die hinzugekommene Erkenntniß erfährt er, im Laufe der Erfahrung, was er ist, d.h. er lernt seinen Charakter kennen. Er erkennt sich also in Folge und Gemäßheit der Beschaffenheit seines Willens; statt daß er, nach der alten Ansicht, will in Folge und Gemäßheit seines Erkennens. Nach dieser dürfte er nur überlegen, wie er am liebsten seyn möchte, und er wäre es: das ist ihre Willensfreiheit. Sie besteht also eigentlich darin, daß der Mensch sein eigenes Werk ist, am Lichte der Erkenntniß. Ich hingegen sage: er ist sein eigenes Werk vor aller Erkenntniß, und diese kommt bloß hinzu, es zu beleuchten. Darum kann er nicht beschließen, ein Solcher oder Solcher zu seyn, noch auch kann er ein Anderer werden; sondern er ist, ein für alle Mal, und erkennt successive was er ist. Bei Jenen will er was er erkennt; bei mir erkennt er was er will.“


Arthur Schopenhauer - "Die Welt als Wille und Vorstellung" 
- aus Buch 4 §55






Dienstag, 13. April 2021

"David Hume - Night thoughts of a sceptic"


 
 
 
„Methinks I am like a man, who having struck on many shoals, and having narrowly escap’d ship-wreck in passing a small frith, has yet the temerity to put out to sea in the same leaky weather-beaten vessel, and even carries his ambition so far as to think of compassing the globe under these disadvantageous circumstances. My memory of past errors and perplexities, makes me diffident for the future. The wretched condition, weakness, and disorder of the faculties, I must employ in my enquiries, encrease my apprehensions. And the impossibility of amending or correcting these faculties, reduces me almost to despair, and makes me resolve to perish on the barren rock, on which I am at present, rather than venture myself upon that boundless ocean, which runs out into immensity. This sudden view of my danger strikes me with melancholy [...] 
 
When I look abroad, I foresee on every side, dispute, contradiction, anger, calumny and detraction. When I turn my eye inward, I find nothing but doubt and ignorance. All the world conspires to oppose and contradict me; tho’ such is my weakness, that I feel all my opinions loosen and fall of themselves, when unsupported by the approbation of others. Every step I take is with hesitation, and every new reflection makes me dread an error and absurdity in my reasoning. [...] 
 
Where am I, or what? From what causes do I derive my existence, and to what condition shall I return? Whose favour shall I court, and whose anger must I dread? What beings surround me? and on whom have I any influence, or who have any influence on me? I am confounded with all these questions, and begin to fancy myself in the most deplorable condition imaginable, inviron’d with the deepest darkness... “
 
David Hume - "Treatise of Human Nature" 
- from Book 1, Part IV, Section VII







Freitag, 2. April 2021

"Arthur Schopenhauer - Nachtgedanken XI"



„Der Tod ist ein Schlaf, in welchem die Individualität vergessen wird: alles Andere erwacht wieder, oder vielmehr ist wach geblieben.“ *

* Auch kann folgende Betrachtung Dem, welchem sie nicht zu subtil ist, dienen, sich deutlich zu machen, daß das Individuum nur die Erscheinung, nicht das Ding an sich ist. Jedes Individuum ist einerseits das Subjekt des Erkennens, d.h. die ergänzende Bedingung der Möglichkeit der ganzen objektiven Welt, und andererseits einzelne Erscheinung des Willens, desselben, der sich in jedem Dinge objektivirt. Aber diese Duplicität unsers Wesens ruht nicht in einer für sich bestehenden Einheit: sonst würden wir uns unserer selbst an uns selbst und unabhängig von den Objekten des Erkennens und Wollens bewußt werden können: dies können wir aber schlechterdings nicht, sondern sobald wir, um es zu versuchen, in uns gehn und uns, indem wir das Erkennen nach innen richten, ein Mal völlig besinnen wollen; so verlieren wir uns in eine bodenlose Leere, finden uns gleich der gläsernen Hohlkugel, aus deren Leere eine Stimme spricht, deren Ursache aber nicht darin anzutreffen ist, und indem wir so uns selbst ergreifen wollen, erhaschen wir, mit Schaudern, nichts, als ein bestandloses Gespenst.“


Arthur Schopenhauer - "Die Welt als Wille und Vorstellung" 
- aus Buch 4 §54






Donnerstag, 1. April 2021

"Bachs Passion - Szenen einer Kreuzigung"


Wie viele Nägel wurden zur Kreuzigung von Jesus Christus verwendet? Diese etwas abwegig scheinende Frage spaltete die größten Maler der Kunstgeschichte und ließ unterschiedliche Bildtraditionen entstehen. Doch auch im Bereich der Musik nahm sich einer dieses Themas an: Johann Sebastian Bach fand in seiner „Johannespassion“ eine eindringliche Antwort und setzte sie mit dramatischer Wucht um. 

Zunächst ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Malerei: Im Spätmittelalter herrschte bei Kreuzigungsmotiven ein sogenannter "Viernageltypus" vor, wonach jeder Fuß – genauso wie jede Handfläche – mit einem eigenen Nagel versehen wurde. Das wohl beeindruckendste Kruzifix dieses Typus jener Zeit entwarf der florentinische Maler Cimabue (ca.1240-1302), in welchem noch die Tradition der spätbyzantinischen Ikonenmalerei spürbar ist: 


Allerdings wandelte sich diese Ausführungsform noch zu Cimabues Lebzeiten. Schon sein mutmaßlicher Schüler Giotto (ca. 1270-1337), der Wegbereiter der italienischen Renaissance, bemühte sich um eine räumlichere Körperhaftigkeit des Gekreuzigten und verwendete zu dessen Befestigung einen "Dreinageltypus", welcher den Verlauf der Gliedmaßen als auch den verinnerlichten Schmerz diskreter und natürlicher erscheinen ließ: 


Den Übergang von der etwas künstlich wirkenden Ikonografie eines Cimabue hin zu den körperbezogenen, weltlicheren Tendenzen der sich ankündigenden Frührenaissance eines Giottos wurde von einem bekannten Zeitgenossen, der vermutlich beide Maler persönlich kannte, kommentiert. Es war der große Dichterfürst Dante Alighieri (1265-1321), der beiden in seiner "Commedia" ein Denkmal setzte und dabei über die Vergänglichkeit des Ruhms reflektierte:
 
"O eitler Ruhm der menschlichen Begabung;
Wie schnell vergeht das Grünen seines Gipfels,
Wenn hinter ihm nicht rohe Zeiten folgen!
Das Feld der Malerei zu halten dachte
Einst Cimabue; jetzt rühmt sich Giotto,
So daß verdunkelt wird der Ruf des ersten.
...
Der Preis der Welt ist nichts als nur ein Hauch,
Der bald von hierher bläst bald von dorther,
Und mit der Richtung seinen Namen ändert."
 
Purgatorio, Canto XI  (Witte, 1865)
 
Doch der Ruhm Giottos hielt an und dessen Malkunst machte Schule. So ziemlich jeder große Meister der italienischen Renaissance berief sich auf Giotto und folgte seiner natürlichen, weltnahen, greifbaren Körperlichkeit. Und was Kreuzigungsmotive betraf, so wurden diese über viele Generationen hinweg mit dem "Dreinageltypus" ausgeführt, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen. 

Masaccio (1401-1428): 


 
Fra Angelico (1395-1455): 

 

Andrea Mantegna (1431-1506): 



Raffael (1483-1520): 



Tizian (ca.1490-1576): 



Tintoretto (1518-1594):
 

 
Selbst deutsche Malermeister wie Albrecht Dürer (1471-1528), welcher längere Studienaufenthalte in Venedig verbrachte, dort von den Errungenschaften der italienischen Renaissance inspiriert wurde und anschließend seine Erkenntnisse bei seiner Rückreise mit sich nördlich der Alpen nahm, vollendete noch in der Lagunenstadt eine Miniatur eines Kruzifixes in guter alter Giotto-Tradition: 


Allerdings änderte sich im späten 16.Jahrhundert – an der Wende zum Barock – erneut der Zeitgeist. Man begann – vor allem im katholischen Spanien – den Viernageltypus als historisch authentischer anzusehen und Kreuzigungsszenen entsprechend auszuführen. Zwei der beeindruckendsten und wirkmächtigsten Kreuzigungsgemälde stammen demnach von spanischen Pinseln. Da wäre zunächst das weltberühmte, fast naturalistisch wirkende Meisterwerk „Christus am Kreuz“ von keinem Geringeren als Diego Velázquez (1599-1660): 


Das andere Meisterwerk – ebenso realistisch anmutend – schuf Francisco de Zurbarán (1598-1664): 



Demnach war sich die Malerei im Laufe ihrer Geschichte durchaus uneins, wie die Kreuzigungsszene korrekt darzustellen sei. Doch obwohl diese Debatte ureigenes Thema der bildenden Künste schien, hinderte das den barocken Komponisten Johann Sebastian Bach (1685-1750) nicht daran, im Eingangschor seiner „Johannespassion“ Stellung zu beziehen und sich musikalisch zu deklarieren. 

Dieser Eingangschor ist der eigentlichen Handlung übergeordnet und birgt im Keim bereits das, wovon das weitere Werk erzählen wird. Demnach ist bereits der Eröffnung die gesamte Leidenshistorie eingeschrieben, welche in schmerzvoller, schonungsloser Abgründigkeit heraufbeschworen wird: In der Klagetonart g-Moll entspinnt sich über einem leiderfüllten Klangteppich aus hoffnungslos kreisenden Sechzehntelfiguren der Violinen sowie einem unerbittlich pulsierenden Bass ein von schmerzlichen Dissonanzen durchsetzter Dialog aus Flöten und Oboen, der auf erschütternde Weise das Martyrium und die Qualen eines geschundenen Leibes uns zu vergegenwärtigen sucht. Nachdem der anfangs statisch kreisende Klangteppich chromatisch abzusteigen beginnt und die Musik anschwellen lässt, mündet dies unmittelbar zum Höhepunkt des bis dahin rein instrumentalen Vorspiels, dem Einsatz des Chors (1:09). Doch dieser hebt nicht – wie zu erwarten wäre – zu einem Klagegesang, sondern zu einem Loblied der allumfassenden Herrschaft Christus mit den Worten „Herr, unser Herrscher“ an. Diese Doppelbödigkeit war zu Bachs Zeiten etwas Einzigartiges, wenn nicht gar Radikales: Es wird mit Worten die Herrlichkeit Gottes gepriesen, während musikalisch sein Martyrium, sein Sterben, sein Kreuztod heraufbeschworen wird. Selten wurde die Dualität von Licht und Schatten, von Geist und Fleisch drastischer in ein und demselben Moment dargestellt. – Doch damit nicht genug: Die Stimmen setzen alle gemeinsam, zeitgleich mit geballter Wucht zur Anrede „Herr“ an. Doch diesen gewaltigen Anruf des Höchsten tätigen sie nicht – entsprechend der literarischen Vorlage – einmal, sondern mit Nachdruck gleich dreimal hintereinander: Diese drei Rufe gleichen Mark und Bein durchdringenden Stichen, kraftvollen Stößen oder gar mit Wucht ins nackte Fleisch getriebenen Nägeln – der gewaltsame Ursprung aller Stigmata –, die das leiderfüllte Brodeln des musikalischen Klangteppichs durchschneiden. Dadurch wird der dramatische Höhepunkt der Passion bereits in den ersten Takten des Werkes atmosphärisch vorweggenommen: Die dreimalige Anrufung des Herren korrespondiert mit dessen Kreuzigung, jeder Schrei nach dem Herrn entspricht einem Nagel der am Kreuz in den Leib des Gemarterten geschlagen wird. Der Opfertod des Erlösers und die Sehnsucht einer erlösungsbedürftigen Masse, des Chors, verschmelzen zu einer unheimlichen Einheit von expliziter Körperlichkeit und metaphysischer Transzendenz, die an Ausdrucksstärke und Bildhaftigkeit ihresgleichen sucht. Die Anrufung Gottes (Invokation) und Heraufbeschwörung einer Vorstellung (Evokation) überlagern sich untrennbar zu einem übergeordneten Ganzen, das die vielgestaltige, suggestive Wirkungsmacht von Musik auf eindrucksvollste Weise demonstriert und dem Unsagbaren eine weitere Schicht abringt. 




Dieser Interpretation folgend unterstützte Bach musikalisch die Bildtradition der italienischen Renaissance, der auch viele protestantische Maler nördlich der Alpen gefolgt waren, den "Dreinageltypus". 

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P.S.: Es gibt tatsächlich Stätten, die behaupten, im Besitz einer dieser Nägel zu sein. Nähme man jede dieser Angaben ernst, wären es um die dreißig Nägel, eine Anzahl, die selbst den Viernageltypus sprengen und jeden mit der Kreuzigung befassten Künstler vor ganz neue Herausforderungen stellen würde…