Donnerstag, 19. August 2021

"Gustave Flaubert - Nachtgedanken I"




„Im Grunde ihrer Seele freilich wartete sie auf ein Ereignis. Wie Matrosen in Seenot ließ sie über die Einsamkeit ihres Lebens einen verzweifelten Blick schweifen, suchte in der Ferne nach einem weißen Segel am diesigen Horizont. Sie wusste nicht, wie dieser Zufall aussehen, welcher Wind ihn zu ihr treiben, an welches Ufer er sie bringen würde, ob er Schaluppe war oder Schiff mit drei Decks, schwer von Ängsten oder voller Glückseligkeit bis hinauf in die Ladeluken. Doch jeden Morgen beim Aufwachen erwartete sie ihn für diesen Tag, und sie lauschte auf alle Geräusche, sprang erschrocken hoch, wunderte sich, dass er nicht kam; und ersehnte dann, bei Sonnenuntergang, jedesmal ein bisschen trauriger, den nächsten Morgen.“


Gustave Flaubert - "Madame Bovary" 
- aus 1. Teil, IX (Übersetzung: E.Edl)