Sergei Prokofjew (1891-1953) war ein russischer Meister, der spätromantische, impressionistische und neoklassizistische Klangsprachen zu absorbieren wusste, um daraus seinen eigenen Stil zu kreieren. Dieser war geprägt von einer Motorik mit Hang zum Grotesken, dem es an lyrischer Durchdringung nicht fehlte. So wurde Prokofjew sowohl zum Überwinder als auch zum Verbinder, dessen harmonisch kühne Schöpfungen die Tonalität zwar stellenweise ausreizten, sie aber im Ganzen zugleich wahrten. Das Streben nach Klangschönheit war letztendlich auch in Prokofjews Schaffen ein Ideal, was den russischen Meister zu einem großen Melodiker machte und in einer Zeit voller Umbrüche das große Publikum nie verlieren ließ.
Zunächst zur Motorik: Sie ist die rastlos treibende Kraft in fast allen Werken Prokofjews.Dies illustriert seine frühe Toccata op.11 besonders eindrucksvoll, die vor technisch-mechanischer Perfektion und entmenschlichter, vorwärtsdrängender Kälte nur so glänzt. Das Klavier wird vom Instrument zur Maschine umfunktioniert, die nicht durch melodiöse Themen, sondern durch markanter Rhythmik in Form von repetierenden Hammerschlägen besticht, die den dynamischen Verlauf des Werkes prägen und eine neue – mechanistische – Epoche in der Musikgeschichte einläuten.
Ein anderes Beispiel eines motorischen Exzesses ist das Finale der 7. Sonate op.83, das in seiner rhythmischen Dynamik aber weniger an maschinelle Kälte, sondern eher an eine visionäre Urform eines Rock ’n’ Roll denken lässt.
In den meisten Werken Prokofjews treten die motorischen Eigenheiten seines Stiles aber nicht in Reinkultur auf, sondern in Kombination mit anderen Klangsphären, um eine reizvolle Erweiterung des bisher Bekannten zu vollführen. Ein unheimlich wirkmächtiges Beispiel ist der archaisch-barbarische Klang des ersten Satzes der „Skythischen Suite“ op.20, der das als rhythmisch entfesselte – motorisch getriebene –Urgewalt auftretende Hauptthema im weiteren Verlauf in kühn oszillierende, impressionistisch anmutende, mystische Sphären überführt und transzendieren lässt. Der Kontrast zwischen martialischer Wucht und schwebender Entrücktheit wurde wohl nie eindrucksvoller auf so engem Raum in Musik gesetzt.
In Prokofjews 1. Symphonie op.25 ist die ihr innewohnende Motorik die treibende Kraft einer vorwärtsdrängenden Tanzfreude im Stile Haydns. Dieses neoklassizistische Meisterwerk besticht beim Heraufbeschwören einer vergangenen Epoche durch rhythmische Präzision sowie Transparenz im Klang und überrascht durch abrupte harmonische Entwicklungen als auch exzentrisch übermütige Modulationen, die wiederum an das 20. Jahrhundert gemahnen und nur dem Geist Prokofjew entsprungen sein konnten. Der hochinspirierte, ungeheuer schwungvolle erste Satz steht den Vorbildern des 18.Jahrhunderts entsprechend in lupenreiner Sonatenhauptsatzform.
Eine weitere neoklassizistische Perle aus Prokofjews Feder ist der zweite Satz des 3. Klavierkonzertes op.26. Ein barocker Gesellschaftstanz in Form einer Gavotte in ausgedehntem Zeitmaß wird im strengen Gleichschritt wiederbelebt und fünf Variationen unterzogen, die sich in Stil und Ausdruck grundlegend voneinander unterscheiden und die kompositorische Bandbreite des Meister vom motorisierten Mechaniker bis hin zum lyrischen Träumer illustrieren: Ist die erste Variation (0:54) eine zarte, neoklassische Fantasie des Klaviers über das Gavotte-Thema, so übernimmt bereits in der zweiten (1:56) das motorische Element karikierend die Führung, bevor dieses in der dritten (2:40) stürmisch vom Klavier Besitz nimmt und durch sprunghafte Entladungen sowie schroffe Dissonanzen jagt, bei denen die zugrundeliegende Gavotte kaum noch zu erkennen ist. Die lyrische vierte Variation (3:55) mit der Bezeichnung „Andante meditativo“ – der tiefsinnige Ruhepol des Satzes – dringt in impressionistisch entrückte, mystische Sphären vor, während die fünfte (6:11) die motorische Kraft wiedererlangt und sich in repetierender, exhaltierter Spielfreude ergeht, bevor die Wiederkehr des Gavotte-Themas diesen originellen und vielschichtigen Satz ruhig beschließt.
Im zweiten Satz des 2. Violinkonzertes op.63 verbindet sich die für Prokofjews Werk so prägende Motorik mit einem lyrischen Melos in Form von weit ausschwingenden Melodiebögen der Solovioline, die sich über den taktgebenden, weichen Untergrund einer Pizzicato-Klangfläche entspinnen und Steigerungswellen von ergreifender Intensität erleben: Hier wird strenge Rhythmik – einem präzisen Uhrwerk gleich – zusammen mit einem spätromantischen, melancholischen Abgesang zu einer gemeinsamen Synthese geführt, die einen Höhepunkt der modernen Instrumentalmusik darstellt und an Ausdruckskraft ihresgleichen sucht.
Ein weiteres Werk Prokofjews, das von dessen motorischem sowie lyrischem Vermögen zeugt, ist gleichzeitig seine wohl berühmteste Schöpfung: Der „Tanz der Ritter“ aus seinem Ballett „Romeo und Julia“ nach William Shakespeare. In der vorliegenden Hörprobe – die Version aus der Suite – gibt es drei Teile die sich fundamental voneinander unterscheiden, aber gleichzeitig zu Prokofjews größten Eingebungen gehören: Einleitend erklingt der Befehl des Herzogs von Verona an die verfeindeten Adelsfamilien, den Montagues und die Capulets, den Krieg sofort zu beenden und die Waffen niederzulegen. Prokofjew verwendet hierfür – ohne jede Motorik und Lyrik – ausschließlich zwei aufeinander folgende, dissonante Klangballungen, die ein anschwellendes Crescendo bis an die Schmerzgrenze erfahren und sich am Höhepunkt eruptiv entladen. Es folgt abrupt Stille, nur einige Streicher schwingen noch im Hintergrund wie paralysiert ohne jede Melodie klinisch auf einzelnen Tönen verweilend nach und entspinnen so eine schreckliche, resignierte Vorahnung des Danachs. Die Schrecken des Krieges wurden wohl nie kompakter – in nur 16 Takten! – und drastischer in Musik gefasst – gleich einer Mahnung, die von Tod und Verwüstung weiß. Manche sprechen gar von einer visionären musikalischen Vorwegnahme des nuklearen Holocausts, der 10 Jahre nach der Komposition – aus dem Jahr 1935 – traurige Wirklichkeit werden und in ein Wettrüsten münden soll.
Der eindringliche Befehl des Herzogs trifft leider auf taube Ohren. Die bewaffneten Ritter tanzen während eines Balls – es handelt sich schließlich um ein Ballett – auf und das motorische Element in Prokofjews Schaffen nimmt seinen wohl berühmtesten Lauf (1:17): Ein dunkles, gewichtiges Thema mit markant punktierter Rhythmik erhebt sich über einem stampfenden ostinaten Bass. Die Tempobezeichnung „Allegro pesante“ ist Programm und das düstere, schwere Schreiten erfährt eindrucksvolle Steigerungswellen, die auch schrill sich reibenden Dissonanzen nicht scheuen.
Als Julia am Ball erscheint ändert sich der Charakter der Musik grundsätzlich (3:15): Das lyrische Element nimmt nun Überhand in Form einer Episode voll Anmut und Sehnsucht, welche Julia gewidmet und ein weiterer Beleg von Prokofjews Subtilität wie Vielseitigkeit ist. Voll sinnlicher Melancholie wird Julias zartes Wesen, ihre verletzliche Schönheit beschrieben und lässt kurz den martialischen Aufmarsch der Waffenbrüder vergessen, bevor deren gepulstes Tanzmotiv wieder die Führung übernimmt und das Stück kraftvoll abschließt. Möchte man Prokofjews Ausdrucksvielfalt in a nutshell demonstrieren, wäre dieses Stück keine schlechte Option.
Ein rhythmisch faszinierendes, bizarres Stück aus demselben Ballett ist „Tybalts Tod“. Hier findet Prokofjews Motorik wohl seine groteskesten und abgründigsten Auswüchse: Romeo und Tybalt (zwei überhitzte Teenager aus den verfeindeten Adelsfamilien) kämpfen gegeneinander. Was als Streit unter Jugendlichen beginnt, endet mit dem Tod des Titelgebers. Genauso legt Prokofjew seine Musik an: Das Stück beginnt als übermütiger Tanz voll Esprit und Witz, der in eine wilde Jagd mündet (1:19), und plötzlich ins Stocken gerät, als Tybalt seine tödliche Verletzung zugefügt wird. Von nun an neigt der nahende Tod sein bitteres Haupt in die Welt der Jugend. Tybalt beginnt torkelnd einen „Danse macabre“ (2:34), der bald von fatalistischen, choralartigen Melodie der Blechbläser begleitet wird (2:56) und sich im weiteren Verlauf zu einem gewaltigen Trauermarsch ungeahnten Ausmaßes ausweitet, welcher der Tragweite des Geschehens ebenso erschreckenden wie ergreifenden Ausdruck verleiht. Prokofjews groteske Ironie und poetische Erfindungskraft werden hier zu einem erschütternden Höhepunkt vereint.
Zum Abschluss soll Prokofjews symphonisches Meisterwerk – seine 5. Symphonie op.100 – noch einmal die beiden Pole seines Schaffens – das motorische und das lyrische Element – kontrastreich und eindrucksvoll demonstrieren: Der zweite Satz – ein lebhaftes Scherzo – ist im Grunde eine verspielte symphonische Toccata, die ganz in ihrer markanten Rhythmik, vorwärtsdrängenden Motorik sowie eingängigen Melodik aufgeht und deren grotesker Humor ganz Prokofjews Handschrift trägt.
Im Gegensatz dazu der dunkle, wehmütige zweite Satz – ein tiefgründiges Adagio – der fast wie ein nostalgischer Nachhall der Spätromantik wirkt, wären da nicht die taktgebenden Schläge, die an ein präzises Uhrwerk erinnern, die schrillen Dissonanzen und gewaltigen Steigerungswellen, die uns nicht vergessen lassen, wer allein zu solch poetischem Fluss fähig war: Sergei Prokofjew, der motorisierte Lyriker, der Meister des Grotesken und vielleicht der letzte große Melodiker des 20. Jahrhunderts.