Donnerstag, 20. Oktober 2022

"Johannes Brahms - Über Anmut und Würde"

 
 
-----------------------------------------     Im Gedenken an Lars Vogt (1970-2022)      ---------------------------------------- 


Im Herbst des Jahres 1853 kam es in Düsseldorf zu einer für die Musikgeschichte durchaus bedeutenden Begegnung: Der kaum 20-jährige Johannes Brahms (1833-1897) lernte Robert Schumann (1810-1856) kennen. Das Verhältnis war nicht nur vom Respekt des Jüngeren gegenüber dem Älteren geprägt, sondern wurde auch von Schumanns Überzeugung getragen, in Brahms den führenden Komponisten der anbrechenden Zeit erkannt zu haben. Er sollte Recht behalten.


So tat Robert Schumann im Oktober 1853 seine Meinung zu Johannes Brahms in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Neue Bahnen“ auch öffentlich kund, indem er überschwänglich schrieb: 

„Ich dachte, [...] es würde und müsse [...] einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms. [...] Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde […] – einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form […]“ 

Zu jener Zeit konnte Brahms bereits zwei abgeschlossene Klaviersonaten sowie ein eigenständiges Scherzo vorweisen und arbeitete gerade an seinem bis dato bedeutendsten Werk, der dritten Klaviersonate (später veröffentlicht als op.5), von der bereits zwei Sätze vollendet waren. Da es sich hierbei um seine bislang reifsten Schöpfungen handelte, lag es nahe, auch diese dem älteren Meister vorzuführen, um ihn von den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen. Es waren wohl nicht zuletzt diese beiden Sätze, die Schumann mit den Worten „verschleierte Symphonien“, „Poesie“, „dämonisch“ und „von der anmuthigsten Form“ bedachte. Lassen sich die ersteren Begriffe durch den romantischen Sprachgebrach erklären, um lyrische Ausdruckskraft zu beschreiben, die eine tiefgreifend emotionale Wirkung zu entfachen vermag, so kann bei dem Verweis auf Anmut durchaus die hohe Weimarer Klassik bemüht werden, die schon versucht hat, diesen Begriff zu ergründen: 
 

Schließlich war es kein Geringerer als der große Dichter und Dramatiker Friedrich Schiller (1759-1805), der sich in ernstem philosophischen Bemühen mit Begriffen wie Schönheit, Anmut und Würde auseinandersetzte. Nach Schiller ist Schönheit eine durch sich selbst gebändigte Kraft, in der zwanglos Harmonie zwischen Vernunft und Sinnlichkeit bestehen kann und als Freiheit in der Erscheinung zu Tage tritt. Freiheit und Schönheit bedingen also einander. Eine Form der Schönheit ist die Anmut, welche nicht von Natur gegeben, sondern vom Subjekt selbst hervorgebracht wird. Anmut ist für Schiller demnach Ausdruck einer schönen Seele, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren. Und nur im Dienste dieser könne die Natur Freiheit besitzen und zugleich ihre Form bewahren. Weiters sieht die Vernunft in der Anmut ihre Forderung in der Sinnlichkeit erfüllt und eine ihrer Ideen tritt ihr in der Erscheinung entgegen, die Wohlgefallen auslöst, den Geist zu beleben vermag und eine Anziehung des sinnlichen Objekts zur Folge hat, die Schiller Liebe nennt. Im höchsten Grad der Anmut liegt gar die Möglichkeit, sich selbst zu verlieren und in den Gegenstand hinüberzufließen. Demnach grenzt der höchste Genuss der Freiheit an den völligen Verlust derselben. – Schiller wird später auf dieser Überlegung eine Idee begründen, welche die Wirkung der Schönheit echter Kunst auf das erkennende Subjekt zu beschreiben versucht, indem diese im Subjekt gegensätzliche Kräfte wie jene der Natur beim Empfinden sowie jene der Vernunft beim Denken aufzuheben vermag, das Gemüt von inneren Zwängen physischer wie moralischer Nötigung erlöst und den Menschen in einen Zustand der freien Bestimmbarkeit versetzt, den sogenannten „ästhetischen Zustand“. Dieser Zustand ist laut Schiller jener, der den Menschen über die Natur erhebt und ihm zweckungebunden - denn nichts anders ist die Kunst - die Würde der persönlichen Freiheit zum Gestalten schenkt. Demnach wird der Übergang vom Empfinden zum Denken, vom rein physischen zum moralischen Zustand durch die Erfahrung des Schönen vermittelt, die Kontemplation bewirkt und das Schöne für das Subjekt Gegenstand und Zustand zugleich werden lässt: Gegenstand, weil die Reflexion die Bedingung ist, unter der das Subjekt eine Empfindung von ihr hat; Zustand, weil das Gefühl die Bedingung ist, unter der das Subjekt eine Vorstellung von ihr hat. So ist das Schöne nicht nur Form, die betrachtet wird, sondern auch Leben, indem das Subjekt sie fühlt, da die Reflexion so vollkommen mit dem Gefühl zerfließt, dass die Form unmittelbar empfindbar wird. 

Möglicherweise dachte Schumann an Ähnliches, als er die Klavierstücke des jungen Brahms „von der anmuthigsten Form“ bezeichnete. Jedenfalls gelang Brahms anhand seiner Klaviersonaten in gewisser Weise das, was Schiller einer „schönen Seele“ zugeschrieben hatte: Sie besitzen Freiheit und bewahren gleichzeitig die Form. Oder anders formuliert: Brahms nutzte die Gattung der damals schon etwas aus der Mode gekommenen klassischen Klaviersonate und füllte sie mit überbordendem Ideenreichtum romantisch-subjektiver Ausdruckskraft, die wiederum ganz im Zeichen der zeitgemäßen Klangsphäre tiefer Verinnerlichung stand. Der ungezügelte Quell jugendlicher Inspiration wurde also durch klassische Form gebändigt und in übergeordneter Struktur verewigt, sodass Sinnlichkeit wie Vernunft gleichermaßen auf höchst ästhetische Weise Genüge getan wurde und eine souveräne Versöhnung zweier Epochen - der Klassik und der Romantik - in der Komposition eines jungen Genies gelang. Schumann erkannte und benannte dies mit verheißungsvollen Worten. Und Brahms wurde diesen gerecht. 

Doch gehen wir einen Schritt zurück und betrachten jene Sätze der noch unfertigen Klaviersonate, die Brahms bei der Begegnung bereits abgeschlossen hatte und die auf Schumann wohl den unmittelbarsten und reifsten Eindruck machen mussten. Da war zunächst das „Andante espressivo“, das Brahms bei der späteren Veröffentlichung mit Versen versah, welche die poetische Stimmung eines Nachtgemäldes heraufbeschwören und die Musik in die Nähe von Tonmalerei rückt: 

„Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint 
da sind zwei Herzen in Liebe vereint 
und halten sich selig umfangen“ 

Diese Zeilen - wem auch immer sie zugedacht waren - sollen aber nicht von der Tatsache ablenken, um was für großartige Musik es sich hierbei handelt: Es handelt sich um ein Nachtstück (Nocturne), das aus der Welt des deutschen Volksliedes stammt, tief romantische Innenwelten offenbart und gleichzeitig impressionistische Klangwirkungen vorwegnimmt. Strukturell betrachtet liegt eine einfache Liedform vor, die sich grob in die Teile A – B – A mit abschließender Coda einteilen lässt und einige von Brahms‘ schönsten Eingebungen besitzt. Teil A beginnt mit einer fallenden Melodielinie, die vom steten Pulsieren des Basses begleitet wird. Ob hier die „zwei Herzen in Liebe vereint“ schlagen, ist nebensächlich, denn der junge Brahms gelangt zu einer perfekten Symbiose aus fragiler Klangschönheit und souveräner Ausdrucksstärke von atemberaubender Intensität. Klar und unsentimental werden Innenwelten in Musik gewandelt, die zuvor noch nie erschlossen wurden. Teil B (ab 2:25) spinnt diese Atmosphäre mit zart hymnischen Anklängen fort, bis es zu einer noch tieferen Verinnerlichung kommt (ab 3:10), die einer kontemplativen Einkehr gleicht, wo Zeit stillzustehen scheint und in die dunklen Urgründe einer metaphysischen Klangwelt vorgedrungen wird, die in aller Einfachheit das Signum der Vollendung trägt. Was der tiefen Innerlichkeit folgt ist erlösender Aufschwung, staunende Rückkehr in die Welt, so unmittelbar wie ergreifend, ohne je in den Verdacht von Gefühlsseligkeit zu geraten. Und doch ist es das Gefühl, das sich hier Bahn bricht und das evozierte Tongemälde zu vervollständigen sucht: Als würde jemand in tiefer Nacht sich in einer Wasseroberfläche betrachten und plötzlich im dunklen Nass auch die sich spiegelnden Sterne (oder - um bei den Versen zu bleiben - den Mond) erkennen. Jedenfalls scheint eine gewisse Katharsis erreicht, die von den musikalischen Läufen erhebend getragen wird. Nach erneuter Versenkung mitsamt Aufschwung kehrt Teil A wieder, bevor der Satz in eine umfangreiche Coda, dem Schlussteil, mündet (ab 7:51), die mit den Worten „Steh‘ ich in tiefer Mitternacht“ überschrieben ist und wie eine Meditation über das Erlebte beginnt, die sich aber bald in wilden, sich selbst überhöhenden Ausbrüchen verklärend zu gebärden weiß, bevor der Satz still mit der wiedergefundenen Innerlichkeit der fallenden Melodielinie des A-Teils - allerdings nun mit veränderter Tonart als Zeichen der Metamorphose eines durchlebten Prozesses - wie ein sanftes Wiegenlied für ein einschlummerndes Kind „anmuthig“ ausklingt. 




Es ist schier unglaublich, welche Tiefe und Vielfalt an Ausdruck den jungen Brahms bereits damals zur Verfügung gestanden sind. Doch bei Betrachtung des weiteren Sonatensatzes, der bei der Begegnung mit Schumann bereits abgeschlossen war, wird diese Bandbreite noch weiter, da hier mit demselben Themenmaterial des A-Teiles des Andantes ganz neue Klangsphären erschaffen werden, als wollten sie das dunkle Gegenstück des vorherigen Satzes sein. Diesmal sind es abgründige, trostlose, finstere Klänge, denen der von Schumann gebrauchte Begriff „dämonisch“ durchaus gerecht wird. Es handelt sich um ein Intermezzo, ein Zwischenstück, das Brahms als „Rückblick“ betitelt hat, wodurch der Bezug auf die Atmosphäre des Andantes unter dem Vorzeichen der Vergänglichkeit hergestellt wird. Dieser Rückblick ist aber kein sentimental verklärender, sondern ein ernüchtert bilanzierender: Jeder romantische Gefühlsausdruck, jeder schwärmerische Melodienreichtum wird unterbunden. Was bleibt sind karge, kalte, trostlose Klänge, als wollten sie eine triste Wirklichkeit beschreiben, der Träume und Hoffnungen abhandengekommen und nur noch Enttäuschung und Leere verblieben sind. Der Blick zurück wird zum Abgesang, empfindsame Innerlichkeit weicht bitterer Resignation. Die zarte Dur-Melodie zu „zwei Herzen in Liebe vereint“ wird zu einem finsteren, verfremdeten Moll-Dokument der Entsagung, der Entrückung, der Einsamkeit. Entsprechend gleicht der Rhythmus einem Trauermarsch, der von dumpfem Trommelwirbel, der an Beethovens Schicksalsmotiv gemahnt, schneidend dissonanten Schlägen und gegengesetzten Bewegungsmuster begleitet und so zu einem erschütternden Bekenntniswerk eines erst 20-Jährigen wird, der schon am Beginn seiner Künstlerlaufbahn, die tiefen Abgründe seelischer Zerrüttung kennt und auszudrücken weiß. 




Allein der Kontrast dieser beiden Sätze lässt erahnen, weshalb Schumann in dem jungen Mann nicht nur ein großes Talent, sondern womöglich den führenden Komponisten der nächsten Generation erkannt zu haben glaubte. Diese stille Ahnung hat sich für die Nachwelt bewahrheitet, da Brahms - wie wir heute wissen - längst zu den größten Namen der Musikgeschichte gehört. Allerdings konnte Schumann die Laufbahn und Entwicklung seines Schützlings nicht sehr lange mitverfolgen: Wenige Monate nach der ersten Begegnung unternahm Schumann einen gescheiterten Selbstmordversuch und starb wenige Jahre darauf in einer Nervenheilanstalt. Brahms hingegen wandte sich nach Vollendung der dritten Klaviersonate von der Gattung ab. Er wird sein Leben lang keine weitere schaffen, wodurch op.5 als sein ultimativer Beitrag zu dieser klassischen Form anzusehen ist. Und auch der Schöpfung größerer Werkgruppen für Soloklavier sollte sich Brahms erst gegen Ende seines Lebens, fast 40 Jahre nach der Begegnung mit Robert Schumann in den frühen 1890ern wieder widmen. Dann freilich als reifer Meister, der tatsächlich „Rückblick“ betreibt und einige seiner schönsten Perlen in Form von Intermezzi - sein erstes war jenes mit dem Titel „Rückblick“ der dritten Sonate - Ausdruck verleiht. In diesen späten Stücken kulminiert Brahms’ Lebenswerk in stillen Bekenntnissen höchster Intimität. Es sind stille Gebete, die keine Religion mehr brauchen. Einkehr, ohne Zeremoniell. Und weil sie einen Glanz in sich tragen, ohne je glänzen zu wollen, bringen gerade sie den Begriff der Anmut am wunderbarsten zum Klingen, während sie dem geneigten Publikum Würde verleihen. 




Dienstag, 14. Juni 2022

"Arnold Schönberg - Die glückliche Hand"


Kurz vor dem Ersten Weltkrieg arbeitete Arnold Schönberg (1874-1951) an seinem wohl persönlichsten, kompromisslosesten und rätselhaftesten Werk. Musikalisch längst in völliger Atonalität angelangt, wurde nun auch mit psychologischer Tiefenschärfe jede überlieferte Theatertradition gesprengt, indem er in seinem expressionistischen Meisterwerk „Die glückliche Hand“ das Unterbewusstsein einer Person beschreibt, die in zyklisch wiederkehrenden Traumsequenzen gefangen ist, wo Streben stets in Scheitern endet. 



Der biographische Hintergrund ist rasch erzählt: Schönbergs Frau hatte eine Affäre mit einem befreundeten Maler und wurde von ihrem Mann in flagranti erwischt. Die zwischenmenschliche Konsequenz dieses Ereignisses: Die Frau blieb bei Schönberg, der Maler beging Selbstmord. Die schöpferische – für uns wesentliche – Konsequenz: Es entstand ein zeitloses, vielschichtiges Meisterwerk, das die unergründlichen Tiefen der menschlichen Psyche auszuloten sucht und ausschließlich dem Unterbewusstsein Bühne bietet. Der Text (mit zahlreichen Regieanweisungen) stammt wie die Musik von Schönberg selbst und in gewisser Weise projiziert er sich in die Rolle des einzig solistisch agierenden Protagonisten, dessen Innenleben szenisch dargestellt wird. Diese Darstellung gelingt aber nicht nur durch dessen Gesang, sondern auch durch die Aufspaltung seines Unterbewusstseins in unterschiedliche Stimmen, welche – in Anlehnung an die kommentierende Rolle des Chors der antiken Tragödie – die Vernunft oder das Gewissen symbolisieren, und in diverse stumme Akteure, welche die durchlebten Traumfantasien in den versunkenen Gedankenwelten illustrieren. Auf diese Weise wird dem Betrachter ermöglicht, sich Schicht für Schicht in die Tiefen der Psyche des Protagonisten einzufühlen, die Ausweglosigkeit seiner Lage zu erfahren, um sich am Ende selbst darin zu erkennen. Denn unversehens wird das Individuum auf der Bühne zur Parabel des strebenden (und scheiternden) Subjekts an sich. 

Doch beginnen wir mit der Ausgangslage des Protagonisten gleich in der ersten Szene (ab 00:00): Dieser liegt auf der nahezu stockfinsteren Bühne mit dem Gesicht nach unten am Boden. Auf ihm befindet sich ein dunkles, vampirartiges Unwesen, das sich in dessen Nacken verbissen zu haben scheint. Im Hintergrund sieht man nur die Augen eines Chors, welcher aus sechs Frauen und sechs Männern besteht. Dieser wendet sich gleich zu Beginn mit rätselhaften, gespenstisch intonierten Worten an den am Boden liegenden Mann: 

„Still, o schweige; Ruheloser! - Du weißt es ja; du wußtest es ja; und trotzdem bist du blind? Kannst du nicht endlich Ruhe finden? So oft schon! Und immer wieder? Du weißt, es ist immer wieder das Gleiche. Immer wieder das gleiche Ende. Mußt du dich immer wieder hineinstürzen? Willst du nicht endlich glauben? Glaub der Wirklichkeit; sie ist so; so ist sie und nicht anders. Immer wieder glaubst du dem Traum; immer wieder hängst du deine Sehnsucht ans Unerfüllbare; ans Unerfüllbare; immer wieder überläßt du dich den Lockungen deiner Sinne; die das Weltall durchstreifen, die unirdisch sind, aber irdisches Glück ersehnen! Irdisches Glück! Du Armer! - Irdisches Glück! - Du, der das überirdische in dir hast, sehnst dich nach dem irdischen! Und kannst nicht bestehn! Du Armer!“ 

Dieser an den Protagonisten gerichtete Kommentar bezieht sich auf etwas, das bereits vor dem Bühnengeschehen passiert sein muss, wiederkehrenden Charakter besitzt und stets zur selben ausweglosen Situation, wie wir sie auf der Bühne vorfinden, führt. Wir bleiben aber unwissend, worum es sich dabei handelt. Es werden uns allein die Konsequenz vor Augen geführt. Auch die Rolle des Chors ist von großem Interesse: Betrachtet man ihn als eine von der Hauptfigur getrennten Einheit, so könnte man das Gesagte als von Mitleid getragenem Vorwurf einer höheren Instanz verstehen. Betrachtet man ihn aber als Teil der Hauptfigur, so wäre es ein von Reue getragener Prozess bitterer Selbstreflexion. 

Was auch immer die richtige Interpretation dieser rätselhaften ersten Szene ist, an deren Ende verschwinden gleichzeitig sowohl das am Nacken nagende Unwesen am Rücken des Protagonisten als auch der gespenstische Chor im Hintergrund, sodass sich diese beiden Erscheinungen als miteinander verknüpft offenbaren, als stünden sie als Einheit symbolhaft für „Gewissensbisse“. Wie auch immer diese abstrakt um sich kreisende, surreale Szene einzuordnen ist, die nächste wird für den außenstehenden Betrachter greifbarer, da sich nun eine Art Handlung zu entspinnen scheint: Im Übergang zur zweiten Szene (ab 02:53) springt der Mann – nun von der Last des Unwesens befreit – mit einem Ruck auf und bleibt mit gesenktem Kopf und tiefer Ergriffenheit stehen. Diese Bewegung wird von grellem, höhnischem Gelächter einer unsichtbaren Menschenmenge begleitet, worauf die Bühne plötzlich hell erleuchtet erscheint und so das Bild der zweiten Szene sowie das Aussehen des Mannes preisgegeben wird. Dieser wirkt verwahrlost, blutverschmiert und voll von alten Narben. Er beginnt die Szene mit den schwer deutbaren Worten: „Ja; o ja! Das Blühen: o Sehnsucht!“ Darauf betritt eine schöne, junge Frau die Bühne. Sie bleibt hinter dem Mann stehen und sieht diesen mit unsäglich mitleidsvollem Blick an. Der Mann erschauert, ohne sich nach ihr umgesehen zu haben, und entgegnet plötzlich: „O du! Du Gute! Wie schön du bist! Wie wohl es tut, dich zu sehen, mit dir zu sprechen, dir zuzuhören! Wie du lächelst! Wie deine Augen lachen! Deine schöne Seele!“ Dann hält sie einen Becher in ihrer rechten Hand und reicht diesen dem Mann. Plötzlich hält der Mann den Becher in seiner rechten Hand, ohne sich nach der Frau umgedreht zu haben oder dass einer von beiden sich vom Platz gerührt hätte. Er sieht den Becher mit Entzücken an und entschließt sich, daraus zu trinken. Während er dies tut, verliert die Frau das Interesse an dem Mann und geht gleichgültig, fast feindselig ans andere Ende der Bühne. Dieser sagt aber nach dem Genuss des Getränkes ergriffen: „Wie schön du bist! Ich bin so glücklich, weil du bei mir bist! Ich lebe wieder. O du Schöne!“ Die dissonante Herbheit der Musik konterkariert diese Worte aber auf unerbittliche Weise und spiegelt die ablehnende Reaktion der Frau wider. Diese hat sich nämlich längst von ihm abgewandt, eilt einem elegant gekleideten Herrn, der soeben die Bühne betreten hat, entgegen, und geht mit diesem ab, worauf der zurückgelassene Mann voll Verzweiflung zu stöhnen beginnt und in gebrochener Haltung verharrt. Doch die Frau kehrt zurück und lässt sich vor ihm auf die Knie fallen, als wolle sie um Verzeihung bitten. Das Gesicht des Mannes hellt sich vor Erleichterung auf, ohne zu ihr hinzusehen. Er lässt sich ebenso auf die Knie fallen und erwidert: „Du Süße, du Schöne!“ Er versucht sie zu berühren, es gelingt aber nicht. Sie war, während er niedergesunken war, wieder aufgestanden. Ihr Gesicht hat nun sarkastische Züge angenommen. Kurz darauf entschwindet sie erneut. Der Mann bemerkt dies nicht und singt voll Leidenschaft, während die Musik immer dissonanter und schriller wird: „Nun besitze ich dich für immer.“ Plötzlich wird es vollkommen finster. Das Ende der zweiten Szene ist abrupt erfolgt. 

Die dritte Szene (ab 08:27) spielt in einer wilden Felslandschaft, wo in einer Grotte Arbeiter eher umständlich Gold schmieden. Der Mann beobachtet die Tätigkeit eine Weile, sagt dann aber selbstbewusst: „Das kann man einfacher!“ Darauf nimmt er einen Hammer sowie ein unförmiges Stück Gold und legt es auf den Amboss. Die Arbeiter sehen ihn erbost an und drohen, sich auf ihn zu stürzen. Doch der Mann lässt sich dadurch nicht beirren und schlägt mit einem Schwung auf das Goldstück ein. Dabei spaltet er den Amboss durch die Mitte in zwei Teile, bückt sich nach dem bearbeiteten Goldstück und hebt ein mit Edelsteinen reich geschmücktes Diadem hoch. Dabei sagt er gelassen zu den Arbeitern: „So schafft man Schmuck!“ Er wirft den Verärgerten emotionslos das Geschmeide vor die Füße. Diese wollen sich nun nur umso entschlossener auf ihn stürzen, doch als sich der Mann umdreht, wird die Grotte hinter ihm plötzlich dunkel. Darauf erhebt sich ein unheimliches musikalisches Crescendo, das sich in Form eines Sturmes auf der Bühne äußert, der den Mann in Panik versetzt und seinen Kopf an den Rand des Platzens bringt. Sobald der Sturm abgeflaut ist, erscheint die Frau in der – mittlerweile ansonsten leeren – Grotte mit zerrissenem Kleid, sodass sie halbseitig entblößt ist. Auch der elegant gekleidete Herr erscheint, ihr mit dem fehlenden Stück des Kleides in der Hand zuwinkend. Der Hauptprotagonist bemerkt dies und singt verzweifelt: „Du – du! Du bist mein! Du warst mein! Sie war mein!“ Er verkrampft immer mehr in seiner Not und versucht vergebens in die Grotte zu den beiden anderen zu gelangen. Der elegant gekleidete Herr beobachtet die Anstrengungen des Mannes emotionslos und wirft ihn, bevor er gelassen von der Bühne abgeht, den Fetzen mit gleichgültiger Bewegung hin. Die Frau eilt zu dem Fetzen und legt ihn an, um ihre Blöße zu bedecken. Der Mann singt noch flehend: „Du Schöne – bleib bei mir!“ Doch die Frau eilt die Felsschlucht hinauf. Der Mann versucht ihr zu folgen, stürzt jedoch ab, worauf er unter dem höhnischen Gelächter der unsichtbaren Menschenmenge von einem Stein begraben wird. Es wird abrupt finster. 

Die folgende letzte Szene (ab 15:24) schließt den Kreis zur ersten: Der Mann liegt erneut auf der nahezu stockfinsteren Bühne mit dem Gesicht nach unten am Boden. Der Stein, der ihn in der letzten Szene begraben hat, entpuppt sich als das vampirartige Unwesen, das sich erneut seinem Nacken widmet. Im Hintergrund befindet sich der nur über die Augen sichtbare Chor aus sechs Frauen und sechs Männern. Dieser wendet sich wie zu Beginn mit rätselhaften, gespenstisch intonierten Worten an den am Boden liegenden Mann und vollendet so die zyklische Form, die den Mann unentrinnbar gefangen hält, bevor der Vorhang endgültig fällt und so das Publikum schließlich vom sich ständig wiederholenden, hermetischen Schicksal des Mannes zumindest physisch getrennt wird: 

„Mußtest du's wieder erleben, was du so oft erlebt? Mußtest du? Kannst du nicht verzichten? Nicht dich endlich bescheiden? Ist kein Friede in dir? Noch immer nicht! - - Suchst zu packen, was dir nur entschlüpfen kann, wenn du's hältst. Was aber in dir ist und um dich, wo du auch seist. Fühlst du dich nicht? Hörst du dich nicht? Fassest nur, was du greifst! Fühlst du nur, was du berührst, deine Wunden erst an deinem Fleisch, deine Schmerzen erst an deinem Körper? Und suchst dennoch! Und quälst dich! Und bist ruhelos! Du Armer!“ 

   
 
 
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Arnold Schönberg (1874-1951) gelingt in diesem musikalischen Drama – er verwendete den Begriff „Oper“ nicht – in den Jahren 1910-13 ein vielschichtiges und schwer zu entschlüsselndes Meisterwerk des Expressionismus. Er beschreibt eine kafkaeske Situation, noch bevor Franz Kafka (1883-1924) seine großen Werke zu Papier gebracht hat, in der das Irrationale und das Unentrinnbare in klaustrophobischer Bedrohlichkeit herrscht. Die dissonante Musik, die sich längst vom tonalen Korsett befreit hat, unterstreicht dies auf schonungslos eindringliche Weise und macht die Ausweglosigkeit der Situation unmittelbar erfahrbar. Doch nicht nur musikalisch wurden tradierte Konventionen überwunden, auch etablierte Symbole der deutschen Oper werden pervertiert oder ad absurdum geführt: Der Becher tut als Zaubertrank (wie bei Tristan und Isolde) seine Wirkung nicht mehr, mit der Schmiedekunst schafft der Held keine Waffe, die ihn (wie Siegfried mit Nothung) triumphale Heldentaten vollführen lässt, und auch auf einen rettenden Schwan (wie bei Lohengrin) wartet man vergebens; was verlässlich wiederkommt, ist lediglich eine blutsaugende Kreatur, die sich auf am Boden Liegende spezialisiert hat... 

Wenn man das alles bedenkt, muss man sich die Frage stellen, warum das Werk eigentlich „Die glückliche Hand“ heißt! Schönberg verarbeitet hier ohne Zweifel persönliche (womöglich traumatische) Erlebnisse, doch diese sind weder rein privater noch gänzlich negativer Natur. Denn einmal im ganzen Drama gelingt dem Hauptprotagonisten etwas, das man als Triumph sehen kann: Das Schmieden des Schmuckstückes, das er mühelos schafft und anschließend gelassen den ebenso verständnislosen wie wütenden Arbeitern vor die Füße wirft. Es handelt sich hierbei zwar um keine Waffe, die ihn unmittelbar retten könnte – sondern eher in zusätzliche Gefahr bringt –, aber er vollbringt etwas, das er besser kann als alle anderen. Diese Szene lässt sich auch auf Schönbergs Situation (in diesem Fall die berufliche) übertragen: Was er besser kann als alle anderen, ist das Komponieren. Die erzürnten, verständnislosen Arbeiter symbolisieren seine mittelmäßigen Berufskollegen, die noch der musikalischen Konvention verhaftet sind und dem Weg in die freie Atonalität nicht folgen können. Und das Schmuckstück? An diesem schmiedete Schönberg vor dem Ersten Weltkrieg selbst noch. Nach Verfassen des Werkes wird er für fast zehn Jahre in Klausur gehen, um an dem „mit Edelsteinen reich geschmückten Diadem“ zu arbeiten. Mit Erfolg: Dank dem Ergebnis dieses Schaffensprozesses wird er erneut – er war ja bereits einer der bedeutendsten spätromantischen Komponisten seiner Zeit, bevor er zum führenden Avantgardisten des Expressionismus avancierte – Musikgeschichte schreiben, nämlich als Schöpfer der Zwölftontechnik. Mit diesem Kompositionsverfahren wird sich tatsächlich sein glückliches Händchen erweisen und sein ohnehin schon bedeutungsschweres Lebenswerk noch einmal gekrönt werden. Das expressionistische Meisterwerk „Die glückliche Hand“ ist ein wichtiger Meilenstein auf den Weg dorthin, ein gewaltiges Dokument eines nach Ausdruck Suchenden. 

Abschließend sei noch auf die Handlung des Stückes verwiesen: Diese existiert nämlich nur bedingt. Alles, was sich auf der Bühne ereignet, ist das Produkt des Unbewussten eines einzigen Geistes. Das Szenenbild, die darin auftretenden Figuren, die Stimmen, die Lichteffekte und nicht zuletzt die eindringliche Musik sind imaginierter Ausdruck aus den Seelentiefen des Protagonisten, der schließlich auch sich selbst, sein Erscheinungsbild und seine Situation auf der Bühne imaginiert. All das wird von seinem Unterbewusstsein geformt. Realer Bestand ist am Geschehen selbst nicht auszumachen, es regiert das Irrationale, das Phantastische, das Absurde, das eben nicht kausal und schlüssig Erklärbare, das Traumgleiche. Das erkennt man schon an dem mysteriösen, vampirartigen Geschöpf, dem gespenstisch mahnenden Chor, der emotional nicht plausiblen Interaktion des Protagonisten mit Personen, die von ihm nie angesehen werden, die wunderliche Übergabe des Bechers oder wie aus einem unförmigen Goldstück plötzlich Edelsteine entstehen können. Das alles spielt für das Werk aber keine Rolle, bedarf zumindest keiner Erklärung, da das Unbewusste regiert, welches eine ferne Wirklichkeit verarbeitet und subjektiv projiziert. Und genau an diesem Punkt tritt Schönberg (bzw. der Protagonist) als schaffende Kraft des Geschehens in den Hintergrund zurück, da die Darstellung des Unbewussten für das Publikum selbst wiederum zur Projektionsfläche wird, mit der dieses resonieren kann, und so das Dargestellte eine höhere Wirklichkeit erfährt, die nicht mehr an einem Individuum allein festzumachen ist. Das strebende und scheiternde Subjekt in dem Werk wird zur Parabel, zur austauschbaren Identität, das in jedem Unterbewusstsein schlummert und als Projektionsfläche aktiviert werden kann. In diesem weiten, unbekannten Land gelten andere Regeln, genau wie in der Musik, welche hier den sicheren Boden des tonalen Systems endgültig verlassen hat. Insofern hat Schönberg in der Atonalität die kongeniale Ausdrucksform für das Unbewusste gefunden, die über ihn als Schöpfer hinaus direkt zum Empfänger zurückverweist und uns so zu Beteiligten macht. 

Die Rezeption von Seelentiefen einer Psyche in der Kunst, welche von Sigmund Freuds (1856-1939) Traumdeutung und Psychoanalyse maßgeblich beeinflusst wurde, war vor dem Ersten Weltkrieg noch recht jung und sollte erst gut zehn Jahre später in der geistigen Bewegung des „Surrealismus“ mit bedeutenden Vertretern wie dem genialen Filmemacher Luis Buñuel (1900-1983) oder dem ebenso großartigen Maler Salvador Dalí (1904-1989) kulminieren und den internationalen Siegeszug antreten. Schönberg war auch hier seiner Zeit voraus.






Freitag, 6. Mai 2022

"Jean Sibelius - Die Musik in den Zeiten der Krise"

 

Jean Sibelius (1865-1957) wurde lange als romantisierender Idylliker nordischer Landschaften verkannt. Dabei legt sein Werk beklemmendes Zeugnis existenzieller Krisen und bedrohlicher Lebensängste ab, das sich gerade in der Abwendung vom romantischen Ideal hin zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten verstehen lässt. Der Schlüssel zu Sibelius’ Schöpfungen liegt demnach nicht in der Abbildung eines Äußeren, sondern in der Gewahrwerdung eines Inneren, wo Krankheit, Depression und Angst vor künstlerischem Scheitern das Leben prägten und die Gefühlswelt dominierten. 

Aus dieser prekären Lage heraus schuf Sibelius eines seiner bedeutendsten Werke, seine vierte Symphonie (1911), die romantischen Pathos meidet und sich vollends der - vom Komponisten empfundenen - Ohnmacht angesichts der Nichtigkeit des menschlichen Daseins verschreibt. In der Umsetzung sprengte Sibelius nicht nur klassische Formen, sondern negierte auch tradierte Spannungsbögen und reizte die Tonalität bis aufs Äußerste aus. Daraus resultiert ein erschütterndes Bekenntniswerk, das der inneren Not Ausdruck verleiht und über existentielle Fragen des Menschseins heute noch abgründig zu meditieren weiß.

 


Leitmotiv der Symphonie ist ein spannungsreiches Intervall, der Tritonus, der als besonders dissonant empfunden wird und daher auch den Beinamen „diabolus in musica“ trägt. Dieses Intervall prägt alle Themen der viersätzigen Symphonie und stellt sie so miteinander in Verbindung. Dadurch wird der Tritonus nicht nur Keimzelle jeder melodischen Entwicklung, die sich erst allmählich zu einem thematisches Gebilde verdichtet, sondern er beeinflusst auch das harmonische Wesen der Musik, indem eine Haupttonart nie ohne Dissonanzen zu bestehen vermag und stets am Rande zur Atonalität im Ungewissen schweben muss. Der dabei aufgestauten Spannung verwehrt Sibelius eine befreiende Entladung in Form einer harmonischen Auflösung und hält die schmerzhaften Dissonanzen des Tritonus stets aufrecht, sodass ein abgründiges Gefühl der Ausweglosigkeit und Ohnmacht jenseits der vertrauten Hörgewohnheiten evoziert wird, was der Symphonie eine klaustrophobische Wirkung ohne jede Hoffnung verleiht. 

Keimzelle des düsteren Kopfsatzes (ab 0:00) ist ein brütendes Schwanken zwischen den Tonarten in Folge des zugrunde liegenden Tritonus-Intervalls, das den Klangteppich der trostlosen Stimmung des ganzen Satzes bildet und dessen dunklen Fluss bestimmt. Nur elegisch klagende Klänge der Streicher (beginnend mit einem resignierenden Abgesang des Cellos) erheben sich darüber. Doch der Satz erschöpft sich mehr in einem ohnmächtigen Andeuten, ohne je eine melodische Entwicklung oder einen thematischen Gedanken konsolidieren und ausführen zu können. Jede versuchte melodische Entfaltung wird sogleich wieder im Keim erstickt, was ein Gefühl der Beklemmung und Unentrinnbarkeit intensiviert. Schroffe, martialische Blechbläserlinien durchbrechen schließlich das lastende Brüten des Klangteppichs zwar, doch nicht etwa um ein neues Thema zu etablieren, sondern um den schmerzhaften Tritonus des Klangteppichs nur noch lauter - gleich einer Todesverkündigung - in das Dunkel hinauszuschreien, wovon sich die Streicher - im Bestreben musikalisch Bestand zu finden - immer wieder vergebens zu befreien versuchen, um am Ende schließlich einsam und ungehört mit dem Tritonus eingeschrieben ersterben zu müssen. In diesem Satz ist jeder verzweifelte Versuch dem Tritonus zu entrinnen zum Scheitern verurteilt: Jeder sich neu gestaltende motivische Gedanke wird nicht zu Ende gedacht, verliert sich im Nichts und führt zum unentrinnbaren Tritonus des bedrohlich schwebenden, ziellos kreisenden Klangteppichs zurück, als wäre jede aufkeimende Hoffnung nur ein vergebliches Vexierspiel des eigenen Selbstbetrugs. 

Während sich der erste Satz keinem klassisch überlieferten Formmodell zuordnen lässt, scheint dem zweiten Satz (ab 11:12) die Rolle des Scherzos zuzufallen, welches sein thematisches Material üblicherweise in der Form A-B-A vorstellt. Der heitere, tänzerische Beginn bestärkt diese Annahme im Glauben, nun Abschnitt A präsentiert zu bekommen. Diese Annahme wird allerdings schnell konterkariert, indem die Heiterkeit von den wiederkehrenden Tritonus-Intonationen der Blechbläser aus dem ersten Satz schmerzvoll durchschnitten wird und so der scheinbaren Entspannung ein böses Erwachen beschert. Dadurch erlebt Abschnitt A des Scherzos bereits in seinen Anfängen einen ungewöhnlich starken Kontrast von verspielter Heiterkeit bis hin zu klirrender Kälte des dissonanten Tritonus, der mit klassischen Beispielen kaum mehr in Einklang zu bringen ist. Die tänzerische Verspieltheit wird in weiterer Folge zwar langsam wieder aufgenommen, um schließlich zum Abschnitt B des Scherzos überzuführen, doch spätestens hier ist endgültig jede Heiterkeit verflogen: Das Tempo verlangsamt sich, eine fatalistische Stimmung stellt sich ein und der Tritonus dominiert erneut uneingeschränkt das Geschehen, um sich gespenstisch zu gebärden und immer stärker zu steigern. - Das verstörte, klassisch gebildete Publikum verharrt gemäß seiner Hörgewohnheiten der klassischen Scherzoform in der Erwartung eines wiederkehrenden Abschnitts A, um diesen alptraumhaften Abschnitt B rasch hinter sich lassen zu können. Doch dieser Erwartung erteilt Sibelius eine herbe Absage: Er bricht mit der klassischen Form, indem er diesen Abschnitt nicht wiederkehren lässt, sondern lediglich die ersten beiden Töne davon in sich ersterben lässt und den Satz darauf abrupt beendet, als hätten die dunklen Mächte im Abschnitt B endgültig obsiegt. Dieser Formbruch ist eine Absage an jede Hoffnung, jedem Optimismus und jeden Glauben an die Wiederkehr einstiger Verhältnisse. Dieser Bruch ist musikgewordene Resignation, die ihre erschreckende Tragweite gerade darin erhält, dass Musik eben nicht erklingt, sondern endgültig zum Verstummen gebracht und so das Gefäß der klassischen Form unwiederbringlich zerstört wird. 

Der dritte Satz (ab 16:07), ein Largo, bietet eine schwermütige Suche nach einem Thema, um endlich Bestand zu finden. Doch dem Gesuchten wird nie habhaft geworden. Die Suche ist letztendlich vergebens. Doch der Weg zu dieser Erkenntnis ist von unbestreitbarer Größe des Ausdrucks: Der ganze Satz ist eine tragische Odyssee, die verzweifelt nach Steigerung strebt, ohne aber je einen Höhepunkt zu erreichen. In dem Moment, wo man den Höhepunkt zum Greifen nahe meint, löst sich dieser in nichts auf, als wäre er ferner denn je, als wäre er nie da gewesen, höchsten die Illusion von ihm. Dieser Moment – das geistige Zentrum des Werkes – gehört zu den erschütterndsten Zeugnissen von Musik im 20. Jahrhundert. Dieser Satz ist tragisches Sinnbild der Unzulänglichkeit und Ohnmacht des Schaffenden, des Liebenden, des Menschen im Allgemeinen. Die Unvereinbarkeit von Ideal und Welt, der Wahn von Sehnsucht und Erfüllung, die Unerreichbarkeit des Erstrebten und Erdachten, alles, woran so viele Leben zerbrechen, ist hier musikalisch erstmals zu Ende gedacht und scheitert folgerichtig an sich selbst. 

Das Finale (ab 27:32) setzt die Krise des Largos fort. Sibelius scheint in diesem formal ebenso wenig zu fassenden Satz mehrmals auf ein triumphales Jubelfinale hinzuarbeiten und möchte dieses wortwörtlich mit einem Glockenspiel einläuten. Doch der Durchbruch gelingt einfach nicht. Abrupt endet jeder versuchte Aufschwung, unterschiedliche Tonarten arbeiten sich reibend aneinander ab und der Tritonus treibt immer wieder sein altbekanntes Spiel. Die Symphonie endet schließlich trostlos und wie gelähmt in einer um sich selbst trauernden Starre, in welcher die Musik noch ein letztes Mal kraftlos zu ihrem eigenen Abgesang anhebt, bevor sie endgültig und für immer im Nichts verklingt...  

 

 
 

Samstag, 1. Januar 2022

"Mozart und Schubert - Echo verwandter Geister"

 

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-91) war einer der größten Komponisten der Musikgeschichte. Soweit, so bekannt. Weniger bekannt ist, dass einige seiner größten Meisterwerke nie allgemeine Wertschätzung erfahren haben. Sie schlummern - auch heute noch - als unentdeckte Perlen im umfangreichen Werkkörper des zu kurzen Lebens und warten geduldig auf Würdigung. Zum Glück gab es aber in der Vergangenheit immer wieder Eingeweihte, die deren Wert erkannten, sodass der Perlen Saat auch in nachfolgenden Epochen Früchte tragen konnte. Einer dieser Eingeweihten war Franz Schubert (1797-1828), der in seiner größten – vollendeten – Symphonie an eines von Mozarts verkannten Meisterwerken erinnerte und sich vor diesem verneigte.

 



Die Liste von Mozarts Werken, die eine höhere Aufmerksamkeit verdienten, ist lang: Während seine sechs Haydn-Quartette zurecht hochgelobt werden, scheinen seine mindestens ebenso genialen Streichquintette KV 515 und 516 oder sein spätes Streichtrio KV 563 nahezu vergessen; während immer wieder über die raunende Todesnähe seiner späten Symphonien gegrübelt wird, findet die trostreiche Unerbittlichkeit seiner abgründigen „Maurerischen Trauermusik“ KV 477 kaum Erwähnung; und während viele dem süßen Klang seiner frühen Violinkonzerte nachhängen, gemahnt niemand an die tiefsinnige, ergreifende Sinfonia concertante für Violine und Viola KV 364 oder die transzendentale Dimension seiner späten Violinsonaten

Um ein Herzstück einer Vertreterin der letztgenannten Gattung, soll es hier gehen: Das Adagio der Violinsonate in Es-Dur KV 481. Dieser Satz beginnt mit liebevoll verspielter Zurückhaltung, deren melodiöser Charme sogleich in ihren Bann zu ziehen weiß. Doch dabei bleibt es nicht, ab 2:25 eröffnet Mozart eine neue Dimension, indem er ein nachdenkliches, wehmütig klagendes Moll-Thema einführt, das dem Werk dunkle Klangfarben und zusätzliche Tiefe verleiht. Dieses Thema durchschreitet mehrere Tonarten und ist einigen Verwandlungen unterworfen, bis 3:45 im helleren Dur das einleitende Thema erneut erscheint. Bis hierhin wäre das Werk eine wunderschöne, vielseitige Schöpfung aus bestem Mozart’schen Geiste. Doch damit gab sich der Meister nicht zufrieden und machte das bezaubernde Klangerlebnis zur metaphysischen Erfahrung, indem er 4:18 ein weiteres Thema (III) einführt, in welchem die Violine zum elegischen Gesang anhebt, um uns in neue Sphären zu entführen und dabei immer fernerliegende Tonarten zu durchstreifen. - Fast ist man verleitet, hierfür Beethovens Bezeichnung „Heiliger Dankgesang“ zu verwenden. - Die ästhetische Kraft dieser transzendentalen Erfahrung ist unglaublich intensiv und wirkt im hörenden Betrachter nach. Selbst die Wiederkehr des einleitenden Themas (5:44) steht unter einem veränderten Vorzeichen und hat an emotionaler Ausdrucksvielfalt und Tiefenwirkung gewonnen, bevor die Violine 7:55 noch einmal zu ihrem Gesang anhebt, an ferne metaphysische Regionen gemahnt und kurz darauf zu einem schlichten Ende führt, das mit dem Beginn des Satzes im Einklang steht und uns als Bereicherte zurücklässt.  

 



Was hat das mit Franz Schubert zu tun? Nun, zunächst muss erwähnt werden, dass Franz Schubert ein Genie war, das radikal Neues mit Tradition zu verbinden wusste und dies auch mit Referenzen zu alten Meistern zu erkennen gab. Ein Beispiel hierfür ist der zweite Satz seiner letzten vollendeten Symphonie D 944 mit der Tempovorschrift „Andante con moto“. In dieser Bezeichnung liegt bereits etwas motorisch Getriebenes zugrunde, ein marschartiges, volksliedhaftes Voranschreiten, dessen Form im Strukturverlauf des Satzes sich mit klassischen Modellen kaum mehr fassen lässt. Als Sonatenhauptsatzform ohne Durchführung wurde diese Aneinanderreihung von festgeformten, einer steten Bewegung unterworfenen Themenkomplexen bezeichnet. Und tatsächlich lässt sich die Satzstruktur grob im Schema A-B-A’-B-Coda abbilden, allerdings mit dem radikalen Zusatz, dass die scheinbar abgegrenzten Einheiten durch subtile innere Entwicklungsprozesse aufeinander bezogen bleiben und diese über alle Zäsuren - auch vermeintlicher Zusammenbrüche - hinweg das Satzgeschehen bestimmen. Entsprechend Schuberts radikaler Gestaltungsidee wird somit das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, die den gesamten Satzverlauf über einen stets fließenden Prozess durchleben. Der vielfach als konservativ betitelte Schubert entpuppt sich hier also als kompromissloser, zukunftsweisender Visionär, der aus seiner in sich gekehrten Suche nach neuen, subjektiven Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten tatsächlich neue Wege entdeckt hat. 
 
Was hat das nun mit Mozart zu tun? Nun, zunächst lässt sich auch die Struktur des „Adagios“ von Mozarts Violinsonate in kein klassisches Formmodell zwängen und auch hier strahlen die einzelnen Themenkomplexe in die jeweils anderen - sei es als dramaturgische Intensivierung oder als fernes, erinnerndes Echo - aus. Doch betrachten wir nun die einzelnen Themenkomplexe von Schuberts „Andante con moto“ seiner letzten vollendeten Symphonie näher: Der erste Themenkomplex A (bis 3:08) lässt sich erneut unterteilen in a-b-a’-b-a’ und ist von Anfang an vom marschartigen Rhythmus eines tänzerisch-schreitenden Themas herzschlagartig durchpulst. Selbst lyrische Abschweifungen (die Abschlüsse der a- bzw. a’-Teile ab 0:55, 1:53 und 2:55), in denen der Puls weniger präsent erscheint, werden rasch von einem plötzlich hereinbrechenden Tuttischlag im fortissimo beendet (Beginn des Abschnitts b) und die streng durchpulste Rhythmik dominiert darauf das Geschehen erneut als treibende Kraft, der immer mächtigere Steigerungswellen folgen, bis das reicher umspielte Hautthema in den a’-Teilen unverwüstlich wiederkehrt und unermüdlich weiterschreitet. 
 
Nach einer kurzen Überleitung wird ab 3:18 eine neue Welt, eine neue Klangsphäre erschlossen: Es ist der Beginn des Themenkomplexes B, der über einem feingliedrigen Duktus einen elegischen, fast choralartigen Gesang der Streicher entspinnt: vollblütig, lyrisch und doch dem Erdboden längst enthoben. Auch hier könnte man Beethovens Bezeichnung „Heiliger Dankgesang“ verwenden, wäre man nicht sicher, schönsten Schubert zu vernehmen. Gewiss, es ist ohne Zweifel schönster Schubert in seiner ureigenen metaphysischen Gestaltungskraft, der den fallenden Streicherklang als melodisch anhebenden Gesang zelebriert, von unterschiedlichen Instrumentengruppen aufgreifen lässt und thematisch weiterführt. Und doch ist diese melodische Figur mehr als eine glückliche Schöpfung aus Schuberts Geiste, es ist gleichzeitig eine respektvolle Referenz an Mozart selbst, ein fernes Echo einer seiner lyrischsten Geisteskinder, deren Genialität Schubert erkannt und der Ästhetik seiner Klänge eingeschrieben hat. Mozarts Thema III der Violinsonate wird in jenem Abschnitt B von Schuberts Symphonie aufgegriffen, verarbeitet und zu einer neuen Stufe des Ausdrucks, zu einer neuen Stufe der Transzendenz im Mantel einer frühromantischen Klangsprache übergeführt. Mozarts Idee spiegelt sich in Schuberts Konzept, wird diesem einverleibt und zu etwas Neuem verwandelt. - So werden wir unvermutet Zeugen einer Zwiesprache, deren Echo bis heute anhält...