Donnerstag, 20. Oktober 2022
"Johannes Brahms - Über Anmut und Würde"
Dienstag, 14. Juni 2022
"Arnold Schönberg - Die glückliche Hand"
Freitag, 6. Mai 2022
"Jean Sibelius - Die Musik in den Zeiten der Krise"
Jean Sibelius (1865-1957) wurde lange als romantisierender Idylliker nordischer Landschaften verkannt. Dabei legt sein Werk beklemmendes Zeugnis existenzieller Krisen und bedrohlicher Lebensängste ab, das sich gerade in der Abwendung vom romantischen Ideal hin zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten verstehen lässt. Der Schlüssel zu Sibelius’ Schöpfungen liegt demnach nicht in der Abbildung eines Äußeren, sondern in der Gewahrwerdung eines Inneren, wo Krankheit, Depression und Angst vor künstlerischem Scheitern das Leben prägten und die Gefühlswelt dominierten.
Aus dieser prekären Lage heraus schuf Sibelius eines seiner bedeutendsten Werke, seine vierte Symphonie (1911), die romantischen Pathos meidet und sich vollends der - vom Komponisten empfundenen - Ohnmacht angesichts der Nichtigkeit des menschlichen Daseins verschreibt. In der Umsetzung sprengte Sibelius nicht nur klassische Formen, sondern negierte auch tradierte Spannungsbögen und reizte die Tonalität bis aufs Äußerste aus. Daraus resultiert ein erschütterndes Bekenntniswerk, das der inneren Not Ausdruck verleiht und über existentielle Fragen des Menschseins heute noch abgründig zu meditieren weiß.
Leitmotiv der Symphonie ist ein spannungsreiches Intervall, der Tritonus, der als besonders dissonant empfunden wird und daher auch den Beinamen „diabolus in musica“ trägt. Dieses Intervall prägt alle Themen der viersätzigen Symphonie und stellt sie so miteinander in Verbindung. Dadurch wird der Tritonus nicht nur Keimzelle jeder melodischen Entwicklung, die sich erst allmählich zu einem thematisches Gebilde verdichtet, sondern er beeinflusst auch das harmonische Wesen der Musik, indem eine Haupttonart nie ohne Dissonanzen zu bestehen vermag und stets am Rande zur Atonalität im Ungewissen schweben muss. Der dabei aufgestauten Spannung verwehrt Sibelius eine befreiende Entladung in Form einer harmonischen Auflösung und hält die schmerzhaften Dissonanzen des Tritonus stets aufrecht, sodass ein abgründiges Gefühl der Ausweglosigkeit und Ohnmacht jenseits der vertrauten Hörgewohnheiten evoziert wird, was der Symphonie eine klaustrophobische Wirkung ohne jede Hoffnung verleiht.
Keimzelle des düsteren Kopfsatzes (ab 0:00) ist ein brütendes Schwanken zwischen den Tonarten in Folge des zugrunde liegenden Tritonus-Intervalls, das den Klangteppich der trostlosen Stimmung des ganzen Satzes bildet und dessen dunklen Fluss bestimmt. Nur elegisch klagende Klänge der Streicher (beginnend mit einem resignierenden Abgesang des Cellos) erheben sich darüber. Doch der Satz erschöpft sich mehr in einem ohnmächtigen Andeuten, ohne je eine melodische Entwicklung oder einen thematischen Gedanken konsolidieren und ausführen zu können. Jede versuchte melodische Entfaltung wird sogleich wieder im Keim erstickt, was ein Gefühl der Beklemmung und Unentrinnbarkeit intensiviert. Schroffe, martialische Blechbläserlinien durchbrechen schließlich das lastende Brüten des Klangteppichs zwar, doch nicht etwa um ein neues Thema zu etablieren, sondern um den schmerzhaften Tritonus des Klangteppichs nur noch lauter - gleich einer Todesverkündigung - in das Dunkel hinauszuschreien, wovon sich die Streicher - im Bestreben musikalisch Bestand zu finden - immer wieder vergebens zu befreien versuchen, um am Ende schließlich einsam und ungehört mit dem Tritonus eingeschrieben ersterben zu müssen. In diesem Satz ist jeder verzweifelte Versuch dem Tritonus zu entrinnen zum Scheitern verurteilt: Jeder sich neu gestaltende motivische Gedanke wird nicht zu Ende gedacht, verliert sich im Nichts und führt zum unentrinnbaren Tritonus des bedrohlich schwebenden, ziellos kreisenden Klangteppichs zurück, als wäre jede aufkeimende Hoffnung nur ein vergebliches Vexierspiel des eigenen Selbstbetrugs.
Während sich der erste Satz keinem klassisch überlieferten Formmodell zuordnen lässt, scheint dem zweiten Satz (ab 11:12) die Rolle des Scherzos zuzufallen, welches sein thematisches Material üblicherweise in der Form A-B-A vorstellt. Der heitere, tänzerische Beginn bestärkt diese Annahme im Glauben, nun Abschnitt A präsentiert zu bekommen. Diese Annahme wird allerdings schnell konterkariert, indem die Heiterkeit von den wiederkehrenden Tritonus-Intonationen der Blechbläser aus dem ersten Satz schmerzvoll durchschnitten wird und so der scheinbaren Entspannung ein böses Erwachen beschert. Dadurch erlebt Abschnitt A des Scherzos bereits in seinen Anfängen einen ungewöhnlich starken Kontrast von verspielter Heiterkeit bis hin zu klirrender Kälte des dissonanten Tritonus, der mit klassischen Beispielen kaum mehr in Einklang zu bringen ist. Die tänzerische Verspieltheit wird in weiterer Folge zwar langsam wieder aufgenommen, um schließlich zum Abschnitt B des Scherzos überzuführen, doch spätestens hier ist endgültig jede Heiterkeit verflogen: Das Tempo verlangsamt sich, eine fatalistische Stimmung stellt sich ein und der Tritonus dominiert erneut uneingeschränkt das Geschehen, um sich gespenstisch zu gebärden und immer stärker zu steigern. - Das verstörte, klassisch gebildete Publikum verharrt gemäß seiner Hörgewohnheiten der klassischen Scherzoform in der Erwartung eines wiederkehrenden Abschnitts A, um diesen alptraumhaften Abschnitt B rasch hinter sich lassen zu können. Doch dieser Erwartung erteilt Sibelius eine herbe Absage: Er bricht mit der klassischen Form, indem er diesen Abschnitt nicht wiederkehren lässt, sondern lediglich die ersten beiden Töne davon in sich ersterben lässt und den Satz darauf abrupt beendet, als hätten die dunklen Mächte im Abschnitt B endgültig obsiegt. Dieser Formbruch ist eine Absage an jede Hoffnung, jedem Optimismus und jeden Glauben an die Wiederkehr einstiger Verhältnisse. Dieser Bruch ist musikgewordene Resignation, die ihre erschreckende Tragweite gerade darin erhält, dass Musik eben nicht erklingt, sondern endgültig zum Verstummen gebracht und so das Gefäß der klassischen Form unwiederbringlich zerstört wird.
Der dritte Satz (ab 16:07), ein Largo, bietet eine schwermütige Suche nach einem Thema, um endlich Bestand zu finden. Doch dem Gesuchten wird nie habhaft geworden. Die Suche ist letztendlich vergebens. Doch der Weg zu dieser Erkenntnis ist von unbestreitbarer Größe des Ausdrucks: Der ganze Satz ist eine tragische Odyssee, die verzweifelt nach Steigerung strebt, ohne aber je einen Höhepunkt zu erreichen. In dem Moment, wo man den Höhepunkt zum Greifen nahe meint, löst sich dieser in nichts auf, als wäre er ferner denn je, als wäre er nie da gewesen, höchsten die Illusion von ihm. Dieser Moment – das geistige Zentrum des Werkes – gehört zu den erschütterndsten Zeugnissen von Musik im 20. Jahrhundert. Dieser Satz ist tragisches Sinnbild der Unzulänglichkeit und Ohnmacht des Schaffenden, des Liebenden, des Menschen im Allgemeinen. Die Unvereinbarkeit von Ideal und Welt, der Wahn von Sehnsucht und Erfüllung, die Unerreichbarkeit des Erstrebten und Erdachten, alles, woran so viele Leben zerbrechen, ist hier musikalisch erstmals zu Ende gedacht und scheitert folgerichtig an sich selbst.
Das Finale (ab 27:32) setzt die Krise des Largos fort. Sibelius scheint in diesem formal ebenso wenig zu fassenden Satz mehrmals auf ein triumphales Jubelfinale hinzuarbeiten und möchte dieses wortwörtlich mit einem Glockenspiel einläuten. Doch der Durchbruch gelingt einfach nicht. Abrupt endet jeder versuchte Aufschwung, unterschiedliche Tonarten arbeiten sich reibend aneinander ab und der Tritonus treibt immer wieder sein altbekanntes Spiel. Die Symphonie endet schließlich trostlos und wie gelähmt in einer um sich selbst trauernden Starre, in welcher die Musik noch ein letztes Mal kraftlos zu ihrem eigenen Abgesang anhebt, bevor sie endgültig und für immer im Nichts verklingt...
Samstag, 1. Januar 2022
"Mozart und Schubert - Echo verwandter Geister"
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-91) war einer der größten Komponisten der Musikgeschichte. Soweit, so bekannt. Weniger bekannt ist, dass einige seiner größten Meisterwerke nie allgemeine Wertschätzung erfahren haben. Sie schlummern - auch heute noch - als unentdeckte Perlen im umfangreichen Werkkörper des zu kurzen Lebens und warten geduldig auf Würdigung. Zum Glück gab es aber in der Vergangenheit immer wieder Eingeweihte, die deren Wert erkannten, sodass der Perlen Saat auch in nachfolgenden Epochen Früchte tragen konnte. Einer dieser Eingeweihten war Franz Schubert (1797-1828), der in seiner größten – vollendeten – Symphonie an eines von Mozarts verkannten Meisterwerken erinnerte und sich vor diesem verneigte.
Die Liste von Mozarts Werken, die eine höhere Aufmerksamkeit verdienten, ist lang: Während seine sechs Haydn-Quartette zurecht hochgelobt werden, scheinen seine mindestens ebenso genialen Streichquintette KV 515 und 516 oder sein spätes Streichtrio KV 563 nahezu vergessen; während immer wieder über die raunende Todesnähe seiner späten Symphonien gegrübelt wird, findet die trostreiche Unerbittlichkeit seiner abgründigen „Maurerischen Trauermusik“ KV 477 kaum Erwähnung; und während viele dem süßen Klang seiner frühen Violinkonzerte nachhängen, gemahnt niemand an die tiefsinnige, ergreifende Sinfonia concertante für Violine und Viola KV 364 oder die transzendentale Dimension seiner späten Violinsonaten.
Um ein Herzstück einer Vertreterin der letztgenannten Gattung, soll es hier gehen: Das Adagio der Violinsonate in Es-Dur KV 481. Dieser Satz beginnt mit liebevoll verspielter Zurückhaltung, deren melodiöser Charme sogleich in ihren Bann zu ziehen weiß. Doch dabei bleibt es nicht, ab 2:25 eröffnet Mozart eine neue Dimension, indem er ein nachdenkliches, wehmütig klagendes Moll-Thema einführt, das dem Werk dunkle Klangfarben und zusätzliche Tiefe verleiht. Dieses Thema durchschreitet mehrere Tonarten und ist einigen Verwandlungen unterworfen, bis 3:45 im helleren Dur das einleitende Thema erneut erscheint. Bis hierhin wäre das Werk eine wunderschöne, vielseitige Schöpfung aus bestem Mozart’schen Geiste. Doch damit gab sich der Meister nicht zufrieden und machte das bezaubernde Klangerlebnis zur metaphysischen Erfahrung, indem er 4:18 ein weiteres Thema (III) einführt, in welchem die Violine zum elegischen Gesang anhebt, um uns in neue Sphären zu entführen und dabei immer fernerliegende Tonarten zu durchstreifen. - Fast ist man verleitet, hierfür Beethovens Bezeichnung „Heiliger Dankgesang“ zu verwenden. - Die ästhetische Kraft dieser transzendentalen Erfahrung ist unglaublich intensiv und wirkt im hörenden Betrachter nach. Selbst die Wiederkehr des einleitenden Themas (5:44) steht unter einem veränderten Vorzeichen und hat an emotionaler Ausdrucksvielfalt und Tiefenwirkung gewonnen, bevor die Violine 7:55 noch einmal zu ihrem Gesang anhebt, an ferne metaphysische Regionen gemahnt und kurz darauf zu einem schlichten Ende führt, das mit dem Beginn des Satzes im Einklang steht und uns als Bereicherte zurücklässt.