Kurz vor dem Ersten Weltkrieg arbeitete Arnold Schönberg (1874-1951) an seinem wohl persönlichsten, kompromisslosesten und rätselhaftesten Werk. Musikalisch längst in völliger Atonalität angelangt, wurde nun auch mit psychologischer Tiefenschärfe jede überlieferte Theatertradition gesprengt, indem er in seinem expressionistischen Meisterwerk „Die glückliche Hand“ das Unterbewusstsein einer Person beschreibt, die in zyklisch wiederkehrenden Traumsequenzen gefangen ist, wo Streben stets in Scheitern endet.
Der biographische Hintergrund ist rasch erzählt: Schönbergs Frau hatte eine Affäre mit einem befreundeten Maler und wurde von ihrem Mann in flagranti erwischt. Die zwischenmenschliche Konsequenz dieses Ereignisses: Die Frau blieb bei Schönberg, der Maler beging Selbstmord. Die schöpferische – für uns wesentliche – Konsequenz: Es entstand ein zeitloses, vielschichtiges Meisterwerk, das die unergründlichen Tiefen der menschlichen Psyche auszuloten sucht und ausschließlich dem Unterbewusstsein Bühne bietet. Der Text (mit zahlreichen Regieanweisungen) stammt wie die Musik von Schönberg selbst und in gewisser Weise projiziert er sich in die Rolle des einzig solistisch agierenden Protagonisten, dessen Innenleben szenisch dargestellt wird. Diese Darstellung gelingt aber nicht nur durch dessen Gesang, sondern auch durch die Aufspaltung seines Unterbewusstseins in unterschiedliche Stimmen, welche – in Anlehnung an die kommentierende Rolle des Chors der antiken Tragödie – die Vernunft oder das Gewissen symbolisieren, und in diverse stumme Akteure, welche die durchlebten Traumfantasien in den versunkenen Gedankenwelten illustrieren. Auf diese Weise wird dem Betrachter ermöglicht, sich Schicht für Schicht in die Tiefen der Psyche des Protagonisten einzufühlen, die Ausweglosigkeit seiner Lage zu erfahren, um sich am Ende selbst darin zu erkennen. Denn unversehens wird das Individuum auf der Bühne zur Parabel des strebenden (und scheiternden) Subjekts an sich.
Doch beginnen wir mit der Ausgangslage des Protagonisten gleich in der ersten Szene (ab 00:00): Dieser liegt auf der nahezu stockfinsteren Bühne mit dem Gesicht nach unten am Boden. Auf ihm befindet sich ein dunkles, vampirartiges Unwesen, das sich in dessen Nacken verbissen zu haben scheint. Im Hintergrund sieht man nur die Augen eines Chors, welcher aus sechs Frauen und sechs Männern besteht. Dieser wendet sich gleich zu Beginn mit rätselhaften, gespenstisch intonierten Worten an den am Boden liegenden Mann:
„Still, o schweige; Ruheloser! - Du weißt es ja; du wußtest es ja; und trotzdem bist du blind? Kannst du nicht endlich Ruhe finden? So oft schon! Und immer wieder? Du weißt, es ist immer wieder das Gleiche. Immer wieder das gleiche Ende. Mußt du dich immer wieder hineinstürzen? Willst du nicht endlich glauben? Glaub der Wirklichkeit; sie ist so; so ist sie und nicht anders. Immer wieder glaubst du dem Traum; immer wieder hängst du deine Sehnsucht ans Unerfüllbare; ans Unerfüllbare; immer wieder überläßt du dich den Lockungen deiner Sinne; die das Weltall durchstreifen, die unirdisch sind, aber irdisches Glück ersehnen! Irdisches Glück! Du Armer! - Irdisches Glück! - Du, der das überirdische in dir hast, sehnst dich nach dem irdischen! Und kannst nicht bestehn! Du Armer!“
Dieser an den Protagonisten gerichtete Kommentar bezieht sich auf etwas, das bereits vor dem Bühnengeschehen passiert sein muss, wiederkehrenden Charakter besitzt und stets zur selben ausweglosen Situation, wie wir sie auf der Bühne vorfinden, führt. Wir bleiben aber unwissend, worum es sich dabei handelt. Es werden uns allein die Konsequenz vor Augen geführt. Auch die Rolle des Chors ist von großem Interesse: Betrachtet man ihn als eine von der Hauptfigur getrennten Einheit, so könnte man das Gesagte als von Mitleid getragenem Vorwurf einer höheren Instanz verstehen. Betrachtet man ihn aber als Teil der Hauptfigur, so wäre es ein von Reue getragener Prozess bitterer Selbstreflexion.
Was auch immer die richtige Interpretation dieser rätselhaften ersten Szene ist, an deren Ende verschwinden gleichzeitig sowohl das am Nacken nagende Unwesen am Rücken des Protagonisten als auch der gespenstische Chor im Hintergrund, sodass sich diese beiden Erscheinungen als miteinander verknüpft offenbaren, als stünden sie als Einheit symbolhaft für „Gewissensbisse“. Wie auch immer diese abstrakt um sich kreisende, surreale Szene einzuordnen ist, die nächste wird für den außenstehenden Betrachter greifbarer, da sich nun eine Art Handlung zu entspinnen scheint: Im Übergang zur zweiten Szene (ab 02:53) springt der Mann – nun von der Last des Unwesens befreit – mit einem Ruck auf und bleibt mit gesenktem Kopf und tiefer Ergriffenheit stehen. Diese Bewegung wird von grellem, höhnischem Gelächter einer unsichtbaren Menschenmenge begleitet, worauf die Bühne plötzlich hell erleuchtet erscheint und so das Bild der zweiten Szene sowie das Aussehen des Mannes preisgegeben wird. Dieser wirkt verwahrlost, blutverschmiert und voll von alten Narben. Er beginnt die Szene mit den schwer deutbaren Worten: „Ja; o ja! Das Blühen: o Sehnsucht!“ Darauf betritt eine schöne, junge Frau die Bühne. Sie bleibt hinter dem Mann stehen und sieht diesen mit unsäglich mitleidsvollem Blick an. Der Mann erschauert, ohne sich nach ihr umgesehen zu haben, und entgegnet plötzlich: „O du! Du Gute! Wie schön du bist! Wie wohl es tut, dich zu sehen, mit dir zu sprechen, dir zuzuhören! Wie du lächelst! Wie deine Augen lachen! Deine schöne Seele!“ Dann hält sie einen Becher in ihrer rechten Hand und reicht diesen dem Mann. Plötzlich hält der Mann den Becher in seiner rechten Hand, ohne sich nach der Frau umgedreht zu haben oder dass einer von beiden sich vom Platz gerührt hätte. Er sieht den Becher mit Entzücken an und entschließt sich, daraus zu trinken. Während er dies tut, verliert die Frau das Interesse an dem Mann und geht gleichgültig, fast feindselig ans andere Ende der Bühne. Dieser sagt aber nach dem Genuss des Getränkes ergriffen: „Wie schön du bist! Ich bin so glücklich, weil du bei mir bist! Ich lebe wieder. O du Schöne!“ Die dissonante Herbheit der Musik konterkariert diese Worte aber auf unerbittliche Weise und spiegelt die ablehnende Reaktion der Frau wider. Diese hat sich nämlich längst von ihm abgewandt, eilt einem elegant gekleideten Herrn, der soeben die Bühne betreten hat, entgegen, und geht mit diesem ab, worauf der zurückgelassene Mann voll Verzweiflung zu stöhnen beginnt und in gebrochener Haltung verharrt. Doch die Frau kehrt zurück und lässt sich vor ihm auf die Knie fallen, als wolle sie um Verzeihung bitten. Das Gesicht des Mannes hellt sich vor Erleichterung auf, ohne zu ihr hinzusehen. Er lässt sich ebenso auf die Knie fallen und erwidert: „Du Süße, du Schöne!“ Er versucht sie zu berühren, es gelingt aber nicht. Sie war, während er niedergesunken war, wieder aufgestanden. Ihr Gesicht hat nun sarkastische Züge angenommen. Kurz darauf entschwindet sie erneut. Der Mann bemerkt dies nicht und singt voll Leidenschaft, während die Musik immer dissonanter und schriller wird: „Nun besitze ich dich für immer.“ Plötzlich wird es vollkommen finster. Das Ende der zweiten Szene ist abrupt erfolgt.
Die dritte Szene (ab 08:27) spielt in einer wilden Felslandschaft, wo in einer Grotte Arbeiter eher umständlich Gold schmieden. Der Mann beobachtet die Tätigkeit eine Weile, sagt dann aber selbstbewusst: „Das kann man einfacher!“ Darauf nimmt er einen Hammer sowie ein unförmiges Stück Gold und legt es auf den Amboss. Die Arbeiter sehen ihn erbost an und drohen, sich auf ihn zu stürzen. Doch der Mann lässt sich dadurch nicht beirren und schlägt mit einem Schwung auf das Goldstück ein. Dabei spaltet er den Amboss durch die Mitte in zwei Teile, bückt sich nach dem bearbeiteten Goldstück und hebt ein mit Edelsteinen reich geschmücktes Diadem hoch. Dabei sagt er gelassen zu den Arbeitern: „So schafft man Schmuck!“ Er wirft den Verärgerten emotionslos das Geschmeide vor die Füße. Diese wollen sich nun nur umso entschlossener auf ihn stürzen, doch als sich der Mann umdreht, wird die Grotte hinter ihm plötzlich dunkel. Darauf erhebt sich ein unheimliches musikalisches Crescendo, das sich in Form eines Sturmes auf der Bühne äußert, der den Mann in Panik versetzt und seinen Kopf an den Rand des Platzens bringt. Sobald der Sturm abgeflaut ist, erscheint die Frau in der – mittlerweile ansonsten leeren – Grotte mit zerrissenem Kleid, sodass sie halbseitig entblößt ist. Auch der elegant gekleidete Herr erscheint, ihr mit dem fehlenden Stück des Kleides in der Hand zuwinkend. Der Hauptprotagonist bemerkt dies und singt verzweifelt: „Du – du! Du bist mein! Du warst mein! Sie war mein!“ Er verkrampft immer mehr in seiner Not und versucht vergebens in die Grotte zu den beiden anderen zu gelangen. Der elegant gekleidete Herr beobachtet die Anstrengungen des Mannes emotionslos und wirft ihn, bevor er gelassen von der Bühne abgeht, den Fetzen mit gleichgültiger Bewegung hin. Die Frau eilt zu dem Fetzen und legt ihn an, um ihre Blöße zu bedecken. Der Mann singt noch flehend: „Du Schöne – bleib bei mir!“ Doch die Frau eilt die Felsschlucht hinauf. Der Mann versucht ihr zu folgen, stürzt jedoch ab, worauf er unter dem höhnischen Gelächter der unsichtbaren Menschenmenge von einem Stein begraben wird. Es wird abrupt finster.
Die folgende letzte Szene (ab 15:24) schließt den Kreis zur ersten: Der Mann liegt erneut auf der nahezu stockfinsteren Bühne mit dem Gesicht nach unten am Boden. Der Stein, der ihn in der letzten Szene begraben hat, entpuppt sich als das vampirartige Unwesen, das sich erneut seinem Nacken widmet. Im Hintergrund befindet sich der nur über die Augen sichtbare Chor aus sechs Frauen und sechs Männern. Dieser wendet sich wie zu Beginn mit rätselhaften, gespenstisch intonierten Worten an den am Boden liegenden Mann und vollendet so die zyklische Form, die den Mann unentrinnbar gefangen hält, bevor der Vorhang endgültig fällt und so das Publikum schließlich vom sich ständig wiederholenden, hermetischen Schicksal des Mannes zumindest physisch getrennt wird:
„Mußtest du's wieder erleben, was du so oft erlebt? Mußtest du? Kannst du nicht verzichten? Nicht dich endlich bescheiden? Ist kein Friede in dir? Noch immer nicht! - - Suchst zu packen, was dir nur entschlüpfen kann, wenn du's hältst. Was aber in dir ist und um dich, wo du auch seist. Fühlst du dich nicht? Hörst du dich nicht? Fassest nur, was du greifst! Fühlst du nur, was du berührst, deine Wunden erst an deinem Fleisch, deine Schmerzen erst an deinem Körper? Und suchst dennoch! Und quälst dich! Und bist ruhelos! Du Armer!“
Arnold Schönberg (1874-1951) gelingt in diesem musikalischen Drama – er verwendete den Begriff „Oper“ nicht – in den Jahren 1910-13 ein vielschichtiges und schwer zu entschlüsselndes Meisterwerk des Expressionismus. Er beschreibt eine kafkaeske Situation, noch bevor Franz Kafka (1883-1924) seine großen Werke zu Papier gebracht hat, in der das Irrationale und das Unentrinnbare in klaustrophobischer Bedrohlichkeit herrscht. Die dissonante Musik, die sich längst vom tonalen Korsett befreit hat, unterstreicht dies auf schonungslos eindringliche Weise und macht die Ausweglosigkeit der Situation unmittelbar erfahrbar. Doch nicht nur musikalisch wurden tradierte Konventionen überwunden, auch etablierte Symbole der deutschen Oper werden pervertiert oder ad absurdum geführt: Der Becher tut als Zaubertrank (wie bei Tristan und Isolde) seine Wirkung nicht mehr, mit der Schmiedekunst schafft der Held keine Waffe, die ihn (wie Siegfried mit Nothung) triumphale Heldentaten vollführen lässt, und auch auf einen rettenden Schwan (wie bei Lohengrin) wartet man vergebens; was verlässlich wiederkommt, ist lediglich eine blutsaugende Kreatur, die sich auf am Boden Liegende spezialisiert hat...
Wenn man das alles bedenkt, muss man sich die Frage stellen, warum das Werk eigentlich „Die glückliche Hand“ heißt! Schönberg verarbeitet hier ohne Zweifel persönliche (womöglich traumatische) Erlebnisse, doch diese sind weder rein privater noch gänzlich negativer Natur. Denn einmal im ganzen Drama gelingt dem Hauptprotagonisten etwas, das man als Triumph sehen kann: Das Schmieden des Schmuckstückes, das er mühelos schafft und anschließend gelassen den ebenso verständnislosen wie wütenden Arbeitern vor die Füße wirft. Es handelt sich hierbei zwar um keine Waffe, die ihn unmittelbar retten könnte – sondern eher in zusätzliche Gefahr bringt –, aber er vollbringt etwas, das er besser kann als alle anderen. Diese Szene lässt sich auch auf Schönbergs Situation (in diesem Fall die berufliche) übertragen: Was er besser kann als alle anderen, ist das Komponieren. Die erzürnten, verständnislosen Arbeiter symbolisieren seine mittelmäßigen Berufskollegen, die noch der musikalischen Konvention verhaftet sind und dem Weg in die freie Atonalität nicht folgen können. Und das Schmuckstück? An diesem schmiedete Schönberg vor dem Ersten Weltkrieg selbst noch. Nach Verfassen des Werkes wird er für fast zehn Jahre in Klausur gehen, um an dem „mit Edelsteinen reich geschmückten Diadem“ zu arbeiten. Mit Erfolg: Dank dem Ergebnis dieses Schaffensprozesses wird er erneut – er war ja bereits einer der bedeutendsten spätromantischen Komponisten seiner Zeit, bevor er zum führenden Avantgardisten des Expressionismus avancierte – Musikgeschichte schreiben, nämlich als Schöpfer der Zwölftontechnik. Mit diesem Kompositionsverfahren wird sich tatsächlich sein glückliches Händchen erweisen und sein ohnehin schon bedeutungsschweres Lebenswerk noch einmal gekrönt werden. Das expressionistische Meisterwerk „Die glückliche Hand“ ist ein wichtiger Meilenstein auf den Weg dorthin, ein gewaltiges Dokument eines nach Ausdruck Suchenden.
Abschließend sei noch auf die Handlung des Stückes verwiesen: Diese existiert nämlich nur bedingt. Alles, was sich auf der Bühne ereignet, ist das Produkt des Unbewussten eines einzigen Geistes. Das Szenenbild, die darin auftretenden Figuren, die Stimmen, die Lichteffekte und nicht zuletzt die eindringliche Musik sind imaginierter Ausdruck aus den Seelentiefen des Protagonisten, der schließlich auch sich selbst, sein Erscheinungsbild und seine Situation auf der Bühne imaginiert. All das wird von seinem Unterbewusstsein geformt. Realer Bestand ist am Geschehen selbst nicht auszumachen, es regiert das Irrationale, das Phantastische, das Absurde, das eben nicht kausal und schlüssig Erklärbare, das Traumgleiche. Das erkennt man schon an dem mysteriösen, vampirartigen Geschöpf, dem gespenstisch mahnenden Chor, der emotional nicht plausiblen Interaktion des Protagonisten mit Personen, die von ihm nie angesehen werden, die wunderliche Übergabe des Bechers oder wie aus einem unförmigen Goldstück plötzlich Edelsteine entstehen können. Das alles spielt für das Werk aber keine Rolle, bedarf zumindest keiner Erklärung, da das Unbewusste regiert, welches eine ferne Wirklichkeit verarbeitet und subjektiv projiziert. Und genau an diesem Punkt tritt Schönberg (bzw. der Protagonist) als schaffende Kraft des Geschehens in den Hintergrund zurück, da die Darstellung des Unbewussten für das Publikum selbst wiederum zur Projektionsfläche wird, mit der dieses resonieren kann, und so das Dargestellte eine höhere Wirklichkeit erfährt, die nicht mehr an einem Individuum allein festzumachen ist. Das strebende und scheiternde Subjekt in dem Werk wird zur Parabel, zur austauschbaren Identität, das in jedem Unterbewusstsein schlummert und als Projektionsfläche aktiviert werden kann. In diesem weiten, unbekannten Land gelten andere Regeln, genau wie in der Musik, welche hier den sicheren Boden des tonalen Systems endgültig verlassen hat. Insofern hat Schönberg in der Atonalität die kongeniale Ausdrucksform für das Unbewusste gefunden, die über ihn als Schöpfer hinaus direkt zum Empfänger zurückverweist und uns so zu Beteiligten macht.
Die Rezeption von Seelentiefen einer Psyche in der Kunst, welche von Sigmund Freuds (1856-1939) Traumdeutung und Psychoanalyse maßgeblich beeinflusst wurde, war vor dem Ersten Weltkrieg noch recht jung und sollte erst gut zehn Jahre später in der geistigen Bewegung des „Surrealismus“ mit bedeutenden Vertretern wie dem genialen Filmemacher Luis Buñuel (1900-1983) oder dem ebenso großartigen Maler Salvador Dalí (1904-1989) kulminieren und den internationalen Siegeszug antreten. Schönberg war auch hier seiner Zeit voraus.