Montag, 13. Februar 2023

„Tristan und Isolde – Wagner trifft Schopenhauer“

 

Richard Wagner (1813-1883) schuf mit „Tristan und Isolde“ eines der bedeutendsten Gesamtkunstwerke der Musikgeschichte. Anlass gaben nicht nur bekannte mittelalterliche und romantische Dichtungen, sondern auch die unglückliche Liebe zu Mathilde Wesendonck. Eine Quelle findet seltener Erwähnung, kann aber an Einfluss auf das Werk kaum überschätzt werden: Es ist die Philosophie Arthur Schopenhauers (1788-1860), mit der sich Wagner während der Entstehungszeit auseinanderzusetzen begann. 

 

 

 

Wagner las während der Konzeption von „Tristan und Isolde“ (1854) Schopenhauers 1819 veröffentlichtes Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (WWV) zum ersten Mal. Diese intellektuelle Auseinandersetzung schlug sich nicht nur in Briefwechsel jener Zeit nieder, sondern auch in späteren Schriften, in denen Wagner seine eigene Musik in Worte zu fassen versuchte, um ein unvorbereitetes Publikum Gehalt und Intention seiner Musik zu vermitteln. So schrieb er als Programmbeilage der Uraufführung des Vorspieles zum ersten Akt folgende eindrucksvollen Worte: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nicht-mehr-Erwachen! … Umsonst! Ohnmächtig sinkt das Herz zurück, um in Sehnsucht zu verschmachten, in Sehnsucht ohne Erreichen, da jedes Erreichen wieder neues Sehnen ist ...“ 

 

 

Inhaltlich schwingt hier sehr viel von Schopenhauers Philosophie mit: Sprach Wagner von Sehnsucht und Verlangen, die sich immer neu gebärden, so nahm Schopenhauer dies in seinem Hauptwerk sinngemäß rund 35 Jahre vorweg, als er schrieb: 

„Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, so lange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens.“ (aus WWV, Buch 4 §56)  

An anderer Stelle heißt es

„Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Noth.“ (aus WWV, Buch 4 §57) 

Doch damit nicht genug: Wagner erkannte bereits zur Zeit der Konzeption von „Tristan und Isolde“ den Kern von Schopenhauers Philosophie. Dies belegt ein aufschlussreicher Brief an Franz Liszt (1811-1886) im Dezember 1854. In diesem Brief deutet Wagner nicht nur seine seelischen Qualen aufgrund der unerfüllten Liebe zu Mathilde Wesendonck an, sondern erwähnt namentlich auch sein philosophisches Erweckungserlebnis durch Schopenhauers Philosophie, die seinem Leben neue Impulse und Einsichten geschenkt habe. Wagner wies hierbei nachdrücklich auf die Verneinung des Willens zum Leben als philosophische Quintessenz hin, die ihm Trost spende, und erwähnte bei der Gelegenheit auch das im Entstehen begriffene und von Schopenhauers Gedankenwelt durchdrungene Werk „Tristan und Isolde“

»Neben dem – langsamen – Vorrücken meiner Musik habe ich mich jetzt ausschließlich mit einem Menschen beschäftigt, der mir, wenn auch nur literarisch, wie ein Himmelsgeschenk in meine Einsamkeit gekommen ist. Es ist Arthur Schopenhauer, der größte Philosoph seit Kant, dessen Gedanken er, wie er sich ausdrückt, vollständig erst zu Ende gedacht hat. Die deutschen Professoren haben ihn – wohlweislich – 40 Jahre lang ignoriert: neulich wurde er, zur Schmach Deutschlands, von einem englischen Kritiker entdeckt. Was sind vor diesem alle Hegels etc. für Charlatans! Sein Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam er natürlich nicht neu, und Niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er nicht bereits lebte. Aber zu dieser Klarheit erweckt hat ihn mir erst dieser Philosoph. Wenn ich auch die Stürme meines Herzens, den furchtbaren Krampf, mit dem es sich – wider Willen – an die Lebenshoffnung anklammerte, zurückdenke, ja wenn sie noch jetzt oft zum Orkan anschwellen, – so habe ich dagegen doch nun ein Quietiv gefunden, das mir endlich in wachen Nächten einzig zu Schlaf verhilft; es ist die herzliche und innige Sehnsucht nach dem Tod: volle Bewusstlosigkeit, gänzliches Nichtsein, Verschwinden aller Träume – einzigste endliche Erlösung … Da ich nun aber doch im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll: ich habe im Kopfe einen „Tristan und Isolde“ entworfen, die einfachste, aber vollblütigste Konzeption; mit der schwarzen Flagge, die am Ende weht, will ich mich zudecken, um – zu sterben…«

Der Brief – wohl in einer emotionalen Ausnahmesituation geschrieben – fand in einer späteren (nach Abschluss der Oper verfassten) autobiographischen Schrift von 1864 seine Bestätigung, als Wagner rückblickend noch einmal den Zusammenhang zwischen der Entstehung von „Tristan und Isolde“ und der Entdeckung von Schopenhauers Philosophie betonte:

»Es war wohl zum Teil die ernste Stimmung, in welche mich Schopenhauer versetzt hatte und die nun nach einem ekstatischen Ausdrucke ihrer Grundzüge drängte, was mir die Konzeption eines „Tristan und Isolde“ eingab.« 

Wagner bringt also selbst sein Musikdrama „Tristan und Isolde“ eng mit der Philosophie Schopenhauers in Verbindung und führt dabei bedeutsame Schlagworte wie „Verneinung des Willens zum Leben“ und „Quietiv“ an, die unmittelbar der Lektüre entnommen waren. Hierfür muss man wissen, dass Schopenhauer unter dem „Willen“ eine uns allen eingeschriebene, allgegenwärtige Kraft in Form eines blinden Dranges verstand, dem wir – sowie unsere Vorstellungswelt – unterworfen sind und der wiederum Existenzgrund für alles Seiende ist. Auf die Möglichkeit sich dieses Willens zu entledigen, um sich letztendlich zu erlösen, zielt die Kernaussage von Schopenhauers Hauptwerk, wo die beiden von Wagner verwendeten Schlagworte ausgeführt werden. Entsprechend brächte ein „Quietiv alles und jedes Wollens“ folgendes Ergebnis:

„Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit … Vielleicht ist also hier zum ersten Male, abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere Wesen der Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgesprochen als Verneinung des Willens zum Leben, eintretend, nachdem ihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wollens geworden … Allem Bisherigen zufolge geht die Verneinung des Willens zum Leben, welche Dasjenige ist, was man gänzliche Resignation oder Heiligkeit nennt, immer aus dem Quietiv des Willens hervor, welches die Erkenntniß seines innern Widerstreits und seiner wesentlichen Nichtigkeit ist, die sich im Leiden alles Lebenden aussprechen … Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken. Bis dahin ist Jeder nichts Anderes, als dieser Wille selbst, dessen Erscheinung eine hinschwindende Existenz, ein immer nichtiges, stets vereiteltes Streben und die dargestellte Welt voll Leiden ist, welcher Alle unwiderruflich auf gleiche Weise angehören.“ (aus WWV, Buch 4 §68)

An anderer Stelle bringt Schopenhauer die Verneinung des Willens in Verbindung mit der Überwindung des oben beschriebenen leidvollen Kreislaufes des vergeblichen Strebens nach Befriedigung der Wünsche:

„Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber Das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist. Daß wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als eben ihn. – Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehn abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden.“ (aus WWV, Buch 4 §71)

Schopenhauers wortgewaltige Metaphern sind kraftvoll und anschaulich zugleich. Dass er hier das Bild von „Meeresstille“ bemüht, mag auch für den Entstehungsprozess von „Tristan und Isolde“ nicht ganz ohne Bedeutung sein, schließlich ist die Szenerie des gesamten Musikdramas das Meer (der erste Akt spielt sogar ausschließlich auf einem Schiff). Und während allen drei Akten gibt es wohl nichts, wonach sich Tristan und Isolde mehr sehnten als eine „gänzliche Meeresstille des Gemüths“, am besten in trauter Zweisamkeit. In diesem Zusammenhang ist es notwendig einen weiteren Begriff Schopenhauers anzuführen: „principium individuationis“. Dieser bezeichnet die von anderen getrennte Einzelexistenz, die auf dieser Welt jedem eingeschrieben ist. Demnach ist jedes konkret Seiende, was in raum-zeitlicher Form als Erscheinung existiert und leidet, nur die äußere Gebärdung des intrinsisch waltenden Willens, ein Effekt dieses „Individuationsprinzips“. Jedes Individuum ist davon betroffen. Und gerade Tristan und Isolde, die inniger als alle anderen nach höherer Vereinigung – jenseits des allgegenwärtigen Leids – streben, kämpfen offen gegen dieses Prinzip der Trennung an. Beider – Tristans und Isoldes – „Ich“ will sich schließlich mit dem „Du“ des jeweils anderen zu einem höheren „Wir“ jenseits von Raum und Zeit für immer vereinen, um ihre Individualität entgegen des Prinzips transzendental aufzulösen. In weiterer Folge ist es interessant, dass Schopenhauer zur Veranschaulichung des „principium individuationis“ erneut eine Meeres-Metapher bemüht, als würde er Wagners späteres Musikdrama nicht nur inhaltlich, sondern auch szenisch vorwegnehmen wollen:

„Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis, oder die Weise wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung. Die unbegränzte Welt, voll Leiden überall, in unendlicher Vergangenheit, in unendlicher Zukunft, ist ihm fremd, ja ist ihm ein Mährchen: seine verschwindende Person, seine ausdehnungslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn: und dies zu erhalten, thut er Alles, solange nicht eine bessere Erkenntniß ihm die Augen öffnet. Bis dahin lebt bloß in der Innersten Tiefe seines Bewußtseins die ganz dunkle Ahndung, daß ihm jenes Alles doch wohl eigentlich so fremd nicht ist, sondern einen Zusammenhang mit ihm hat, vor welchem das principium individuationis ihn nicht schützen kann.“ (aus WWV, Buch 4 §63)

Auch für die Furcht vor dem Tod, welche die beiden Liebenden ebenso wie das Individuationsprinzip überwinden, verwendet Schopenhauer an anderer Stelle ein illustrierendes Meeresgleichnis:

„Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie aber in diesem so mühsäligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht sowohl die Liebe zum Leben, als die Furcht vor dem Tode, der jedoch als unausweichbar im Hintergrunde steht und jeden Augenblick herantreten kann. – Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert, – dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühsäligen Fahrt und für ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich.“ (aus WWV, Buch 4 §57)
 

Abschließend sei noch Schopenhauers Einfluss auf Wagners „Tristan und Isolde“ durch eine Analyse von Thomas Mann (1875-1955) beleuchtet. Dieser verehrte beide älteren Meister und verfasste umfangreiche Essays über diese. Eines aus dem Jahre 1933 trägt den Titel „Leiden und Größe Richard Wagners“ und beinhaltet einen geistreichen Gedanken, der Schopenhauers „Willen“ im Musikdrama plausibel und konkret zu verorten weiß: Thomas Mann erkennt diesen im unaufgelösten "Sehnsuchtsmotiv" (wovon der „Tristan-Akkord“ zu Beginn des Vorspiels ein Teil davon ist), das im gesamten Musikdrama unterschwellig – wie es auch der Wille in allem Seienden tut – als elementare Grundeinheit stets präsent und wirkmächtig waltet und so das Werk von Anfang bis Ende durchdringt (und erst ganz zum Schluss seine Auflösung – als Verneinung des Willens zum Leben? – erfährt): 

»Schopenhauers System ist eine Willensphilosophie von erotischem Grundcharakter, und ebensofern sie das ist, ist der Tristan erfüllt, durchtränkt von ihr … Wagner ist im Tristan nicht weniger Mythopoet als im Ring: auch in dem Liebesdrama handelt es sich um einen Weltentstehungsmythos. „Sehnsüchtig“, schrieb er 1860 aus Paris an Mathilde Wesendonck, „blicke ich oft nach dem Lande Nirwana. Doch Nirwana wird mir schnell wieder Tristan; sie kennen die buddhistische Weltentstehungstheorie. Ein Hauch trübt die Himmelsklarheit … [hier notierte Wagner die chromatisch, vom Tristan-Akkord ausgehende Melodielinie, die in ihrem aufsteigenden und unaufgelösten Charakter Klang gewordene Sehnsucht darstellt] … das schwillt an, verdichtet sich und in undurchdringlicher Massenhaftigkeit steht endlich die ganze Welt wieder vor mir.“ Es ist der symbolhafte Tongedanke, den man als „Sehnsuchtsmotiv“ zu bezeichnen pflegt, und der in der Kosmogonie des Tristan den Anfang aller Dinge bedeutet … Es [Das Sehnsuchtsmotiv] ist Schopenhauers „Wille“, repräsentiert durch das, was Schopenhauer den „Brennpunkt des Willens“ nannte, das Liebesverlangen. Und diese mythische Gleichsetzung des süßleidig-weltschöpferischen Prinzips, das zuerst die Himmelsklarheit des Nichts trübte, mit dem sexuellen Begehren ist dermaßen schopenhauerisch, dass die Ableugnung der Adepten zum wunderlichen Eigensinn wird. «

Ganz spannend ist auch Thomas Manns nüchterne, schonungslose und doch vollkommen zutreffende Erkenntnis, dass es sich bei „Tristan und Isolde“ – er bezeichnete es als „opus metaphysicum“ – um ein vollkommen areligiöses Werk handele: 

»Es ist übrigens von großem Interesse, wie in dem Drama der Liebesmythus geistig festgehalten wird und von jeder historisch-religiösen Trübung oder Störung bewahrt bleibt … Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion. Es gibt keinen Gott, - niemand nennt ihn, ruft ihn an. Es gibt ausschließlich erotische Philosophie, atheistische Metaphysik, den kosmogonischen Mythos, in dem das Sehnsuchtsmotiv die Welt hervorruft. «

Diese atheistische Metaphysik wohnt auch Schopenhauers Philosophie inne, die keine Heilslehre, Jenseitsszenarien oder allmächtige Götter verspricht, sondern nur in der inneren Negation einen Weg sieht, um aus der Welt der Täuschung und Trennung, wo das „principium individuationis“ herrscht, herauszukommen, damit das Leid in Folge der wiederkehrenden Sehnsucht endlich ein Ende findet und so das letzte große Ziel erreicht werden könne, das „Nichts“. So beendet Schopenhauer sein Hauptwerk mit den schonungslosen Worten:

„Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“ (aus WWV, Buch 4 §71)

Wagner folgt zwar Schopenhauers Intention am Ende des Musikdramas, dass mit Verneinung des Willens zum Leben auch die Sehnsucht erlischt (wie in den letzten Takten anhand der sich auflösenden Dissonanzen des Sehnsuchtsmotives eindrucksvoll dargestellt), dennoch geht er über die Philosophie hinaus, da er das Unbeschreibliche – Schopenhauers „Nichts“ – zum positiv erlebbaren Ereignis werden lässt: Die Aufhebung der Einzelexistenz wird am Ende durch Isoldes sogenannte „Verklärung“ (der irreführende Begriff „Liebestod“ stammt nicht von Wagner) auf betörende Weise Klang. Ob sie dabei eine „Verneinung des Willens zum Leben“ vollführt, dem tatsächlich Schopenhauers „Nichts“ folgt, kann nicht geklärt werden. Es wäre wohl der strahlendste und schönste Ausdruck, der je für das „Nichts“ musikalisch gefunden wurde. Die spannendere Frage ist, ob sich die „Verklärung“ überhaupt auf Isolde bezieht, oder ob diese – abseits des Bühnengeschehens – vielmehr in den Köpfen des Publikums geschieht: Vielleicht „verklärt“ sich Isolde nur dort – in unseren Köpfen – zu einem Symbol der transzendierten Liebe, dem wahren Ursprung ihrer Unsterblichkeit und einer Hoffnung, die nicht mehr durch Worte, nur noch durch Musik vermittelt werden kann.






Sonntag, 12. Februar 2023

„Tristan und Isolde – Vorspiel mit Happy End“


Ein Akkord ist nichts weiter als ein harmonischer Zusammenhang mehrerer Töne. Die Kombinationsmöglichkeiten hierfür scheinen schier unendlich zu sein. Und dennoch hat einer dieser Klanggebilde ganz besonders Geschichte geschrieben: Es handelt sich um den ersten Akkord der Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner (1813-1883), den „Tristan-Akkord“. Dieser gehört nicht nur zu den meistanalysierten Musikformeln der Welt, sondern birgt auch den Schlüssel zu einer Tiefendimension an Ausdruck, die es zuvor nicht gegeben hat. So schrieb er nicht nur Musikgeschichte, sondern veränderte diese zugleich für immer. 

 


Um die Bedeutung des „Tristan-Akkordes“ zu ermessen, ist es notwendig zu wissen, worum es in „Tristan und Isolde“ überhaupt geht: Es ist Wagners düstere Meditation über Liebe und Tod, die Abkehr vom grellen Tag zur dunklen Nacht hin. Nicht der Blick nach außen auf die banale Oberflächlichkeit der sichtbaren Dinge ist das Thema, sondern jener nach innen, in die Tiefen der Welt des Unterbewussten, wo der Eros waltet und die Sehnsucht stets nach Erfüllung strebt. Diese verborgenen Urgründe der menschlichen Seele werden als tiefere Wirklichkeit dargestellt, die das innere Wesen der äußeren Erscheinungen durchdringt und sich dem fühlenden Subjekt nur im Empfinden – nicht aber im Verstande – offenbart. Wagner findet hierfür eine neue, abgründige, harmonisch wie melodisch kühne Musiksprache, die dies auszudrücken vermag. Und ebendiese ist es, die der äußeren Handlung innere Tiefen verleiht und das Unterbewusste greifbar macht. Die Musik wird des Unsagbaren Stimme. 

All dies ist bereits dem Vorspiel zum ersten Akt – und in weiterer Folge dem gesamten Musikdrama – eingeschrieben. Für eine erste Vorabaufführung des Vorspieles Anfang der 1860er Jahre fand Wagner im Programmheft sehr eindrückliche und aufschlussreiche Worte, die versuchen dem Publikum Gehalt und Bedeutung seiner ebenso intensiven wie bedeutungsschweren Musik näherzubringen: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nicht-mehr-Erwachen! … Umsonst! Ohnmächtig sinkt das Herz zurück, um in Sehnsucht zu verschmachten, in Sehnsucht ohne Erreichen, da jedes Erreichen wieder neues Sehnen ist ...“ 

Die alles durchdringende Grundstimmung des Musikdramas ist also – wie Wagner mehrfach betont – die Sehnsucht. Doch diese ist kein melancholisches Gefühl, das um sich selbst kreist, sondern durchaus zielgerichtet: Sie ist ihrem innersten Wesen nach das Verlangen nach Entgrenzung, nach Überwindung des individuellen Lebens über das trennende „Ich“ hinaus zu etwas Größerem, etwas Allumfassenderen hin. Sie ist der Wunsch nach einer anderen Daseinsform, einem aufgelösten „Wir“ in einem höheren Ganzen, einer neuen metaphysischen Dimension. Um dies darzustellen, wählt Wagner die anschaulichste Erscheinungsform dieses Dranges nach Entgrenzung: die persönliche Liebe zweier Menschen, einem Bund, der die Schranken des „Ichs“ zu überwinden sucht, indem ein „Du“ gefunden wird, welches das alte „Ich“ in eine höhere Einheit transzendiert, erweitert, vervollkommnet. Dieses Streben ist in den beiden Liebenden, Tristan und Isolde, derart stark, dass sie dieses „Wir“, diese vollständige Entgrenzung und letzte Vereinigung nicht mehr im Irdischen verorten, sondern jenseits von Raum und Zeit nach Entledigung ihrer prekären Daseinsform. Diese tiefe Sehnsucht und die Unmöglichkeit sie in dieser Welt zu befriedigen sind die philosophischen Kernthemen des Musikdramas, dessen Grundstimmung bereits im Vorspiel zum ersten Akt auf betörend abgründige Weise vorweggenommen wird:



Doch wie gelingt es Wagner als Träger des tiefgreifend philosophischen Gehalts eine so radikal neue und eindringliche Musiksprache zu entwickeln, die alles Bisherige in den Schatten stellt und das unvorbereitete Publikum ebenso in seinem Bann ziehen wie verstören muss? Das liegt an dem revolutionären Gebrauch von Dissonanzen, die sich sowohl im horizontalen wie im vertikalen Notenbild niederschlagen: Das Zauberwort für die Horizontale ist „Chromatik“, für die Vertikale „progressive Harmonik“. Der „Tristan-Akkord“ trägt zu letzterem maßgeblich bei. Um beides zu erklären, lohnt ein Blick auf die ersten Takte des Vorspiels, die in der Abbildung oben dargestellt sind. 

Der „Tristan-Akkord“ – farblich hervorgehoben – ist ein wesentliches Element der ersten Takte des Vorspiels; er ist aber nicht dessen Beginn. Um eine Idee von seiner tiefgreifenden Bedeutung zu bekommen, ist es notwendig, ihn nicht isoliert zu betrachten, sondern im musikalischen Kontext: Entscheidend sind sowohl die einleitenden Noten, die zu ihm führen, als auch die weitere Entwicklung nach seinem Erklingen. Den tatsächlichen Beginn macht ein tiefer, von den Violoncelli vorgetragener Ton (A), der über das Intervall einer aufsteigenden Sext in einen lang anhaltenden höheren (F) übergeht. Diesen beiden Tönen ist bereits durch die Wahl der unterschiedlichen Tonhöhe ein sehnsüchtiger Charakter eingeschrieben, da das aufsteigende Sext-Intervall immer schon für eine entsprechende Grundstimmung stand: So hat bereits Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) genau dieses in seiner berühmten Liebes-Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ aus der „Zauberflöte“ verwendet, nachdem Taminos Verlangen bei Betrachten eines Bildnisses von Pamina plötzlich entflammt war:



Doch Wagner geht weit darüber hinaus, indem er den ersten Tönen eine ganze Geschichte einschreibt. Das Entscheidende sind hierbei nicht nur die Töne selbst, sondern auch die Art des Vortrages, ihre Dynamik. Die Geschichte dahinter lautet wie folgt: Ein zuvor in sich ruhendes „Ich“ (Ton 1, A) hebt seinen Blick (symbolisch durch das Intervall ausgedrückt) zu einem „Du“ empor und beginnt dabei zu entflammen (Ton 2, F). Der erste – kürzere – Ton (A) trägt die dynamische Vortragsbezeichnung „pp“ (pianissimo, sehr leise), die während der Dauer seines Erklingens unverändert bleibt und für das ruhende „Ich“ steht. Dies gilt für den zweiten – länger anhaltenden – Ton (F) nicht mehr, da der Komponist hier ein „crescendo“ (<), eine während des Erklingens zunehmende Tonstärke, eine sich steigernde Intensität vorschreibt. Das „Ich“ erfährt also eine Veränderung, nachdem es den Blick gehoben und sein „Du“ erfasst hat: Der zweite Ton beginnt zwar wie der verklingende erste im pianissimo, steigert sich aber während seine Erklingens zu einem immer intensiver werdenden Ausdruck des brennenden Schmerzes; er schwillt förmlich vor Verlangen an. In dem zuvor noch ruhenden „Ich“ wird also durch das Erblicken des „Du“ plötzlich die Sehnsucht erweckt. Und Wagner, der Meister der subtilen Geste, braucht für diesen Urknall des verlangenden Empfindens, dieser Evolution des Begehrens nur zwei dynamisch akzentuierte Töne, um den Inhalt seines Musikdramas psychologisch zu umreißen, noch bevor überhaupt ein Akkord erklungen ist. 

Schon sind wir dem „Tristan-Akkord“ nahe, doch es fehlt noch ein weiterer Ton, der zu ihm überführt und das Gefühl der unerfüllten Sehnsucht sogar noch zu intensivieren weiß: Nach dem langangehaltenen, im sich verstärkenden „crescendo“ vorgetragenen zweiten (F) folgt ein dritter Ton (E), der im Intervall einer kleinen Sekunde, dem kleinstmögliche Abstand zweier Tonhöhen, abfällt. Dies geschieht mit der vollen dynamischen Intensität, zu der der zweiten Ton durch das vorgeschriebene „crescendo“ bereits angewachsen ist, und wirkt wie ein seufzendes sich nach unten hin Abwenden, nachdem der Blick auf das „Du“ und der dabei immer dringlicher werdenden Sehnsucht nicht mehr standgehalten werden konnte. Eine kleine Sekunde wird allgemein als schmerzhaft reibende Dissonanz wahrgenommen und erzeugt – für eine Melodie im horizontalen Verlauf – erhebliche Spannungen. Besteht eine Tonleiter ausschließlich aus derartigen Intervallen, so wird diese als „chromatisch“ bezeichnet. Und eben diese spannungsgeladene Chromatik, die bereits den Übergang vom zweiten auf dem dritten Ton prägt, ist zugleich symptomatisch für das Musikdrama im Ganzen. Bestätigung und Intensivierung erfährt diese Vorahnung schon im nächsten, vierten Ton, da der Ton drei (E) in seinem melodischen Verlauf um eine weitere kleine Sekunde – also chromatisch nach unten – auf ein Dis fällt. Dieses Dis wird aber nicht mehr alleine als isolierter Ton vorgetragen (wie die ersten drei durch die Violoncelli), sondern ist Bestandteil des ersten vertikalen Klanggebildes des Werkes, das in Summe aus vier Tönen besteht (F – H – Dis – Gis) und nun auch von den Holzbläsern vorgetragen wird. Bei diesem vertikalen Klanggebilde handelt es sich um den ersten Akkord des Musikdramas und gleichzeitig um den meistanalysierten der Musikgeschichte, den berühmten „Tristan-Akkord“

Dieser Akkord (technisch gesehen ein verminderter Septakkord) bricht plötzlich in dem von den Violoncelli raunend aufbereiteten Dunstraum wie eine mysteriöse Erscheinung aus anderen Sphären ein und entfaltet klanglich eine geheimnisvolle neue Welt der Dissonanz. Diese zeichnet spannungsvolle Sinnlichkeit ebenso wie instabile Fragilität aus und besticht geradezu durch ihre nebulös schwebende, überirdisch wirkende Uneindeutigkeit: Sie lässt sich auf keine Tonart klar festlegen, entbehrt jeder konventionellen Zuordenbarkeit und mit dem Nimbus einer unbeständigen inneren Unrast verweilt sie im Vagen einer nichtaufgelösten harmonischen Spannung als Sinnbild des unerfüllten Begehrens, das sich nach Erlösung sehnt. So beschreibt der „Tristan-Akkord“ auf harmonischer Mikroebene ein dem Menschen eingeschriebenes Gefühl auf eine Weise, zu der Worte nicht fähig sind und deren musikalische Lösung nicht nur zur damaligen Zeit revolutionär war. – 

Doch trotz seiner unbestrittenen Fortschrittlichkeit kündigt sich bei musikgeschichtlicher Betrachtung die harmonische Unbestimmtheit eines „Tristan-Akkords“ bereits in einigen visionären Werken von großen Meistern vor Wagner an. So betrat auch Mozart schon in einigen seiner Kompositionen kühne Regionen, die ihrer tonalen Stabilität im Sinne eines konventionellen Wohlklangs nicht mehr sicher waren. Ein delikates Beispiel, wo ein Klangbild voll zerbrechlicher Schönheit erschaffen wird, ist der zweite Satz des Streichquartettes in Es-Dur (KV428), der an gewissen Stellen (z.B. ab 0:59 der Hörprobe) die spannungsgeladene, geheimnisvoll-dissonante „Tristan-Atmosphäre“ vorwegzunehmen scheint:




Ein weiteres reizvolles Beispiel ist das Lied „Dass sie hier gewesen“ (D775) von Franz Schubert (1797-1828). Dieses wird von Akkordbildungen voll reibender Dissonanzen eingeleitet, bei denen es sich im Wesentlichen um transponierte „Tristan-Akkorde“ handelt. Die schwebende Atmosphäre voll jenseitiger Entrückung ist nicht nur tonal ambivalent, sondern für die ersten 12 Takte mit der Grundtonart C-Dur, die eine geheimnisvolle harmonische Verschleierung erfährt, schlicht unvereinbar:



Auch Robert Schumann (1810-1856) hat in seinem pianistischen Meisterwerk, der ersten Fantasie op.17, den „Tristan-Akkord“ vorweggenommen. Dies tat er in Form eines unaufgelösten Vorhaltakkord am absoluten Höhepunkt (7:28 in der Hörprobe) einer spannungsgeladenen Steigerungswelle, die in der Klavierliteratur ihresgleichen sucht. Die schrille Dissonanz, die dieser Akkord verursacht, hallt noch lange in den darauffolgenden Nachsatz beunruhigend nach, als wäre die harmonische Ordnung nachhaltig erschüttert:



Widmungsträger von Schumanns großer Fantasie ist übrigens kein Geringerer als der größte Klaviervirtuose der damaligen Zeit, Franz Liszt (1811-1886). Und ebendieser soll auch das letzte Beispiele eines „Tristan-Akkords“ avant la lettre liefern. Es befindet sich in einem seiner bedeutendsten Liedern „Ich möchte hingehen“, eine stille verinnerlichte Meditation über den Tod, die „Tristan-Atmosphäre“ atmet: Nachdem der Sänger sinniert, wie er von der Welt scheiden wolle (z.B. wie das Abendrot oder der sinkende Stern), erhält er eine – ernüchternde – Absage, die nach einer Generalpause (ab 5:08), deren bange Stille Liszt mit einer musikalischen Formel am Klavier bricht, in ihrem Verlauf nahezu wörtlich den zweiten und dritten Takt des Vorspiels mehr als zehn Jahre vorwegnimmt (ab 5:41):


 
War Wagner also nichts anderes als ein Plagiator, der die Lorbeeren anderer einheimste? 
 
Die Antwort ist ein klares Nein!  
 
„Tristan und Isolde“ ist eine originäre Schöpfung Wagners, die trotz harmonischer Vorarbeit einiger Visionäre völlig zurecht als singulärer Meilenstein in der Musikgeschichte gilt. Das liegt zum einen an den unverwechselbaren Klangfarben durch die meisterhafte Instrumentierung, zum anderen an der philosophischen Aufladung jeder einzelnen Note; vor allem aber liegt dies an der durchgehend progressiven Handhabung der unaufgelösten Harmonien sowie der kompromisslos chromatischen Melodieführung. Denn im Vergleich zum Lied von Liszt – der übrigens von der engen Verwandtschaft seiner Harmonik mit jener Wagners wusste und später sogar (allerdings aus anderen Gründen) dessen Schwiegervater wurde – weist Wagners Akkord eine wesentliche – geniale – Veränderung auf: Liszts D wurde bei Wagner zum bereits erwähnten Dis. Diese vermeintlich kleine Abweichung ist aber essenziell für die ganze Phrase, da so die fallende Melodielinie von Ton 2 (F) und 3 (E) perfekt chromatisch zum Dis im „Tristan-Akkord“ führt, während zeitgleich mit dem Ende der einen chromatischen Linie, im selben Akkord einige Töne höher im Gis eine neue beginnt. Ein Sehnen wird quasi von einem anderen unmittelbar abgelöst: Die spannungsvolle Reibung in der horizontalen Melodieführung wird also nicht aufgehoben, sie wird – im Gegenteil – nahtlos fortgesetzt, was später als „Unendliche Melodie“ – ein unerlöst dissonantes musikalisches Fortstreben ohne scharfe Zäsuren oder konkretes Ziel – bezeichnet wird und mit klassischer Melodiebildung nicht mehr viel zu tun hat. Doch damit nicht genug: Die im „Tristan-Akkord“ am höchsten Ton neueinsetzende chromatische Melodie ist diesmal eine aufsteigende, welche vier Töne (Gis – A – Ais – H) umfasst, allerdings zu keiner Auflösung des „Tristan-Akkordes“ führt, sondern diesen vielmehr als Auftakt einer instabilen Harmoniesequenz nimmt, der am dritten Ton (Ais) ein weiterer unaufgelöster Akkord folgt, worauf am vierten Ton (H) der Melodielinie der Beginn des Vorspiels, dessen Dissonanzen weder horizontal noch vertikal befriedet werden, einfach im Nichts verklingt. Dieser Beginn, dessen Noten oben dargestellt ist, gilt als Sinnbild des vergeblichen Strebens nach Befriedigung und wird als „Sehnsuchtsmotiv“ in die Geschichte eingehen. 

Doch damit nicht genug: Wagner wiederholt – und spätestens hier geht er an Radikalität weit über Liszt hinaus – eben diese Phrase zwei weitere Male auf immer höheren Tonstufen, um die Vergeblichkeit des Versuches und die immer eindringlicher werdende Intensität des Verlangens deutlich zu machen. Zusätzlich sind diese wiederholten Phrasen auch abseits der Tonhöhe nicht ident, sondern unterscheiden sich geringfügig, sodass ihrer Unregelmäßigkeit ein sich ständig unterschwellig, unbewusst veränderndes Begehren innewohnt, das die Spannung ins fast Unerträgliche steigert, sodass man eine klärende Entladung herbeisehnt. Besonders deutlich wird dies in der Fortführung der zweiten Wiederholung der Phrase, die nach einigen fragmentarischen Melodiefetzen zu einer gewaltigen dissonanten Klangballung (ab 1:32 der Hörprobe des Vorspiels) führt, die aber nicht die erlösende Entladung der aufgestauten Spannung ist, sondern harmonisch – ebenso wie alle anderen Akkorde – völlig unaufgelöst bleibt und einfach einen neuen musikalischen Gedanken voller Dissonanzen – als Ausgangspunkt von neuem Verlangen – entstehen lässt. Die Klangballung wird oft als „Liebesentflammen“ bezeichnet, worauf sich das eigentliche „Liebesmotiv“ oder auch „Liebesblickmotiv“ entspinnt, das die Idee der ersten Töne des Vorspiels (wo ein „Ich“ ein „Du“ erblickt und das Sehnen beginnt) breiteren Raum zum Entfalten lässt (ab 1:42 der Hörprobe des Vorspiels). Umfasste das „crescendo“ der ersten Takte nur wenige Noten zum „Tristan-Akkord“ hin, so wird die Musik des restlichen Vorspiels die genannten Motive miteinander verweben und sich aufgrund der immer vehementer drängenden Leidenschaft zu immer wilderen, immer heftigeren Wogen – als erführe alles ein einziges universal anschwellendes „crescendo“ – aufschaukeln, was schließlich zu einem musikalischen Höhepunkt der sinnlichen Ekstase führt, wie es ihn zuvor in der Musikgeschichte noch nicht gegeben hat, und der letztendlich doch keine Befriedigung bringt und das Sehnen ungebrochen weitergehen muss, schließlich hat das Musikdrama ja gerade erst begonnen. 

Denn wohlgemerkt: Wie drängend und spannungsgeladen die Musik auch wird, die letzte endgültige Befriedigung bleibt ihr bis zum Schluss verwehrt. Die Chromatik und die unaufgelösten Harmonien sind nicht nur Teil eines originellen Vorspiels, sondern konstitutives Wesenselement des gesamten Musikdramas und unterschwellig – sobald es um die Seelenzustände der nach Vereinigung strebenden Liebenden geht – immer präsent. Wagners Revolution in den ersten Takten des Vorspiels dauert letztendlich das gesamte Werk lang – immerhin rund vier Stunden – an und etabliert eine neue Art von Musik, die das künftige Ausdrucksspektrum immens erweitern (und letztendlich auch zur endgültigen Überwindung der Tonalität im frühen 20. Jahrhundert führen) wird. Chromatik und unaufgelöste Harmonien durchdringen also die Partitur von „Tristan und Isolde“ von Anfang bis Ende. Erst ganz am Schluss des Werks, in den letzten Takten von Isoldes „Verklärung“ (die irreführende Bezeichnung „Liebestod“ stammt nicht von Wagner) erklingt noch einmal abschließend der „Tristan-Akkord“ mit der von ihm ausgehenden chromatisch aufsteigenden Melodie (ab 6:41), bevor die dort zugrundeliegenden Dissonanzen endlich ihre langersehnte Auflösung – gemäß der klassischen Harmonielehre, der sich Wagner bis zu dieser Stelle hartnäckig widersetzt hat – in strahlendem H-Dur erfahren und mit ihnen auch die Sehnsucht erlischt, als wäre die Trennung von „Ich“ und „Du“ endlich überwunden und im ersehnten „Wir“ aufgegangen.