Der Prolog von William Shakespeares „Romeo und Julia“ (1597) nimmt das Schicksal der jungen Liebenden vorweg. Was auf der Bühne folgt, ist lediglich der Verlauf des Dramas, der unaufhaltsam besagter Tragödie zusteuert. So widmet sich das eigentliche Geschehen nach dem ‚Was‘ des Prologs nur noch dem ‚Wie‘, das nach Inszenierung verlangt. Eine der besten gelang dem Regisseur Franco Zeffirelli in seiner gleichnamigen Verfilmung (1968), wo sich kinematographische Brillanz mit musikalischer Erfindungskraft zu einer kongenialen Einheit verband, die Begriffe wie Jugend, Liebe, Poesie, Schmerz und Tod auf die Leinwand übertrug und Shakespeares Zeitlosigkeit audio-visuell fortzusetzen wusste.
Die Filmmusik bildet zu Zeffirellis Gesamtkunstwerk „Romeo und Julia“ einen wichtigen Beitrag, indem sie die Sinnlichkeit der hochästhetischen Bilder nicht nur unterstützt, sondern in ihrer Wirkung sogar noch verstärkt. Der Komponist Nino Rota (1911-1979) war zur Zeit der Entstehung des Films längst kein Unbekannter mehr und hatte bereits mit einigen der größten Regisseuren des italienischen Films wie Federico Fellini („I vitelloni“ [1953], „La strada“ [1954], „La dolce vita“ [1960]) oder Luchino Visconti („Senso“ [1954], „Rocco e i suoi fratelli“ [1960], „Il Gattopardo“ [1963]) zusammengearbeitet und unvergessliche Tongemälde für ihre Meisterwerke geschaffen. Die Musik zu Franco Zeffirellis Shakespeare-Adaption sollte allerdings sein bislang größter Erfolg werden und gehört bis heute (neben dem später entstandenen Soundtrack zu „The Godfather“) zu seinen bekanntesten sowie ergreifendsten Werken.
Um zu erfahren, was diese Musik so großartig und berührend macht, bedarf es einer genaueren Betrachtung. Diese wird zur Erkenntnis führen, dass in Rotas Filmmusik der Geist großer Meister der Vergangenheit präsent ist, welcher der Originalität und Ausdruckskraft seiner cineastischen Schöpfung freilich keinen Abbruch tut, dieser aber sehr wohl eine weitere Dimension an historischer Tiefe verleiht.
Beginnen wir beim Leitthema Romeos: Dieses besteht aus zwei unterschiedlichen Motiven. Das erste Motiv (bis 01:03) ist von pastoraler Einfachheit durchdrungen: Eine ansteigende Tonfolge wird von einem kindlich-suchenden, triolischen Umspielen einzelner Töne abgelöst, während der gesamte musikalische Verlauf des Motivs eine aufstrebende Entwicklung, als wäre etwas im Entstehen begriffen, vollführt. Assoziationen an den anbrechenden Tag, wo sich die Sonne langsam über den morgendlichen Dunst erhebt, werden ebenso evoziert wie das langsame Erblühen einer zuvor noch verschlossenen Knospe oder eben das Erwachen bislang unbekannter Regungen jugendlichen Empfindens, wie es im Stück ja auch in der Gefühlswelt des Knaben geschieht. Das zweite Motiv Romeos (01:04-01:33) bestätigt und verstärkt diese Vermutungen in sinnlicher wie pastoraler Hinsicht, indem eine Flöte - Attribut der Hirten, männlich konnotiert - eine eigene Melodielinie entwickelt, die einen größeren Tonumfang umfasst als es noch im ersten Motiv der Fall war. Die sich auf und ab bewegenden Läufe, aus denen die innige Melodie besteht, haben melancholisch-suchenden Charakter, der von Sehnsucht getragen wird, die zwar noch nicht auf Begriffe gebracht werden kann, im erwachten Empfinden des jungen Mannes fortan aber präsent ist.
Mögliche Inspirationsquelle für Romeos Motive verweisen auf melodische Einfälle von großen Kompositionen der Romantik. Für das erste Motiv könnte beispielsweise der zweite Satz des späten Symphoniefragments D936A von Franz Schubert (1797-1828) Pate gestanden haben, dessen triolischen Umspielungen eines meditativ-resignativ um sich kreisenden Themas zwar in einem ganz anderen Kontext stehen als es bei Romeo der Fall ist; die melodische Erfindung weist aber verblüffende Ähnlichkeiten auf. Entfaltet sich bei Romeo eine aufstrebende Entwicklung, so ist diese bei Schubert zwar ebenso vorhanden, allerdings als bestürzendes Zeugnis gehemmt und in ihrer hermetisch verschlossen Eigenart immer wieder in sich selbst zurückfallend. So verharrt es in resignativer Isolation, bis kontrastierend aufhellende Einschübe (ab 03:00) das Thema fortspinnen, ins Lichte wandeln und durch ins Himmlische transzendierte Klangsphären etwas Trost finden. Es handelt sich hierbei um heilige, weit in die Zukunft weisende Musik der neuen subjektiven Innerlichkeit tiefster Romantik, welche ungeahnte Tonräume erschließt, welche der menschlichen Ausdruckskraft zuvor noch nicht zugänglich waren. Es ist Schuberts Schwanengesang, der Abschied eines Sterbenden von der Welt, der noch in den letzten Stunden seines kurzen Lebens daran gearbeitet hat, bis ihm die Feder vor unvollendeter Arbeit - die dennoch das Signum des Vollendeten in sich trägt - für immer aus den Händen glitt. Dass diese Musik dazu bestimmt war, Fragment zu bleiben (und von der Nachwelt umständlich rekonstruiert werden musste), gehört zu den schmerzlichsten Verlusten der Musikgeschichte und findet im Beginn von Nino Rotas Thema für Romeo, welcher ebenso einen frühen Tod erleiden muss, ein fernes, bitter-süßes Echo.
Doch auch der melodische Lauf der Flöte im zweiten Motiv Romeos findet im Werk Schuberts seine Inspirationsquelle, nämlich im Glaubensbekenntnis („Credo“) seiner frühen Messe D167, wo dieser Lauf im Bass von Anfang an bereits vorgeprägt ist und später (ab 01:03) die Streicher in die lichten Höhen erhebender Sphären überführt. Allerdings verharrt die Musik nicht in diesen Sphären, sondern mündet in einen düsteren Moll-Einbruch, der auf den frühen Kreuztod Jesu („Crucifixus“) verweist (ab 01:34). Bei Wiederaufnahme des von den Streichern zuvor intonierten Themas (ab 02:03) ist plötzlich alles ins Erhabene gesteigert und der Chor gemahnt von den Streichern im fortissimo unterstützt trotzig mit voller Kraft an die Auferstehung des zuvor Gekreuzigten („Et resurrexit“). - Soweit geht Rota in seiner Komposition freilich nicht. Er begnügt sich bei Romeos Motiv mit der wunderbaren Melodielinie der Streicher in Form ihres initialen Erscheinens.
Nicht nur Nino Rota ließ sich von diesem wunderbaren Einfall in Schuberts Messe inspirieren, sondern auch der große Schubert-Verehrer Anton Bruckner (1824-1896) verwendete an exponierter Stelle in einer seiner großen Symphonien diesen Streicherlauf. Es handelt sich um die begleitende Ausgestaltung der Wiederaufnahme der herrlichen Kantilene im zweiten Satz seiner 5. Symphonie (ab 11:06). In diesem grandiosen Einfall von elegischer Monumentalität scheint dem gläubigen Katholiken Bruckner tatsächlich die Vertonung der sich öffnenden Himmelspforten gelungen zu sein. Es ist einer jener Momente der großen Symphonik, den man auch nach nur einmaligem Hören nie wieder vergessen kann. Bei den von den Bläsern intonierten Gesang handelt es sich um die bereits im Verlauf des Satzes mehrfach vorgestellte Kantilene, der sich im Hintergrund von den Streichern himmlisch gestaltende Klangteppich, ist aber eine Referenz an jenes Glaubensbekenntnis aus der frühen Schubert-Messe, der hier zu einem Höhepunkt der romantischen Symphonie wurde. - Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Rota auch mit den Symphonien Bruckners gut vertraut war, schließlich hatte er Auszüge der 7. Symphonie für Luchino Viscontis Meisterwert „Senso“ (1954) als Filmmusik aufbereitet.
Doch zurück zu Nino Rotas Filmmusik für „Romeo und Julia“. Das Leitthema der Julia ist ebenso wie jenes Romeos in zwei Motive aufgeteilt. In dieser Hinsicht korrespondieren die beiden Liebenden rein formal schon einmal miteinander. Doch die Übereinstimmung geht noch weiter, da das erste Motiv Julias dem zweiten Romeos entspricht. Es wird in Julias Fall aber nicht von einer (maskulin konnotierten) Flöte vorgetragen, sondern vom - femininen - Klangkörper einer Laute (bzw. Gitarre). Somit wird bereits in der rein musikalischen Anlage - noch bevor sie sich begegnet sind - ihre Bestimmung füreinander ausgedrückt: Die erwachte, sehnsuchtsvoll-suchende Gefühlswelt in Romeos Empfinden findet in Julia ebenso zarten wie zerbrechlichen Widerhall im Lautenklang. Die Sehnsucht nach einem Gegenüber ist also in beiden - Romeo wie Julia - vorhanden, was die Voraussetzung für ihre gegenseitige Liebe sowie das Streben nach Vereinigung (bis in den Tod) ist. Bei der Wiederholung des Themas (ab 00:32) wird diese Sehnsucht musikalisch sogar nahezu physisch greifbar manifestiert, indem das Motiv durch die von der Laute begleiteten Flöte vorgetragen wird, das männliche wie das weibliche Attribut im Duett zueinander finden. - Das zweite Thema Julias (ab 01:02) ist ein lebhafter Sprungtanz in Form eines „Saltarello“ („saltare“ italienisch für „hüpfen“) als Ausdruck ihrer jugendlich unschuldigen Frohnatur.
Dass Romeos Motiv in jenem Julias gerade von einer Laute aufgegriffen wird, ist (unabhängig der geschlechtlichen Symbolik) ein besonders glücklicher Einfall Rotas, da gerade in der venezianischen Tiefebene, wo die Handlung verortet ist (Verona), bereits im frühen 16. Jahrhundert erste Notationen für Lautenmusik überliefert sind, welche die in der Filmmusik so prägnanten Läufe aufweisen. Ein schönes Beispiel ist das Liebeslied „J’ay pris amours“ („Ich habe Liebe angenommen“) für zwei Lauten:
Doch auch Julias zweites Motiv, der Saltarello, ist sehr gut gewählt, da dieser im 14.-16. Jahrhundert gerade in Italien ein sehr beliebter und weitverbreiteter Tanz war. Ein besonders berühmtes Beispiel und eher exzentrischer Vertreter seiner Gattung ist ein Saltarello aus dem 14. Jahrhundert, der die sprunghaften Tanzschritte völlig entfesselt in fast manische Regionen treibt, wogegen Julias Motiv zahm und züchtig wirkt, wie es eben die höfische Etikette einer Dame vorschreibt.
Kommen wir nach dem etwas exaltierten Exkurs der animalischen Tiefen des Saltarellos aber wieder zur Filmmusik zurück: Nach der ersten Begegnung von Romeo und Julia fand Nino Rota ein wunderbares Motiv, das berühmte Liebesthema, welches die aufkeimende Liebe ebenso in sich birgt wie den Trennungsschmerz. Dieses Motiv steht für beide Individuen, die in ihrem Empfinden eins geworden sind und den Verlust des Gegenübers fürchten. Die suchenden Läufe aus ihren zuvor vorgestellten Motiven sind verschwunden, da sie mittlerweile im jeweils anderen fündig wurden. Was bleibt, ist aber die Sehnsucht nach Dauer und Bestand. Was bleibt, ist der Wunsch, das Gefundene zu fassen, gegen alle Widrigkeiten von außen an sich zu binden, um fortan in Frieden mit ihm zu sein. Entsprechend umfasst dieses eine Motiv beide, Romeo und Julia, als verbundenes Paar in zweisamer Einheit. - Dieses wehmütige Liebesmotiv, das in seiner fallenden Geste einem Seufzer gleicht, gehört zu den berühmtesten Melodien der Filmgeschichte und ist auch vom Film losgelöst in die Popkultur eingegangen, da das in ihr ausgedrückte tiefe Empfinden auch außerhalb des Kontextes Gültigkeit behaupten kann.